41. (Un)Schuld

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Die Zeit floss zäh dahin, während Rûna auf dem Boden gekauert auf ihren Urteilsspruch wartete. Ihre Knie schmerzten und ihr Magen knurrte mittlerweile so laut, dass die Männer und Frauen um sie herum sich immer dann umdrehten, wenn er wieder einmal rumpelte. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie die letzte große Mahlzeit zu sich genommen hatte. Doch das war jetzt nicht von Belangen, vor lauter Anspannung hätte sie sowieso nichts essen können.

Es war alles so schnell gegangen, am großen Platz. Gerade noch hatte sie Huldas Stimme in ihrem Kopf gehört, dann hatten zwei Krieger sie an der Schulter gepackt und ruppig herumgewirbelt. Sie hatten nicht einmal nach ihrem Namen gefragt, sie hatten bereits gewusst, dass sie die Seherin war.

„Mitkommen", hatten sie gesagt und sie dann mit groben Händen abgeführt, geradewegs in die große Halle im Langhaus des Fürstens.

So hatte sie dieser Stadt und ihrem neuen Herrscher nicht entfliehen können und ihr Bündel wartete im Stall noch immer vergebenes auf sie. Doch hatte sie wirklich fliehen wollen? Hätte sie ihr Bündel wirklich geholt und die Stadtmauern hinter sich gelassen? Wäre sie geflohen ohne einen weiteren, genaueren Blick auf den Rabenfürsten zu werfen? Nein... auch wenn die Krieger sie nicht abgeführt hätten, hätte sie sich hier ihrem Schicksal ergeben. Irgendetwas in ihrem tiefsten Inneren zwang sie dazu, hierzubleiben. Es ließ ihr keine Wahl und erstickte all ihre Ängste und Huldas verblasste Stimme in ihrem Kopf.

Denn sie klammerte sich an einen kleinen Hoffnungsschimmer. An eine letzte Waffe, die ihr noch geblieben war: Sie hatte einst sein Leben gerettet und auch wenn niemand hier ihr Gesicht kannte, so hatten sich seine Verletzungen, seine Narben und all seine Worte tief in ihrem Kopf festgesetzt und es war ein Leichtes zu beweisen, dass er ihr sein Leben schuldete. Rûna würde das Geheimnis so lange in sich bewahren, bis ihr kein anderer Ausweg mehr blieb. Doch was ihr auch passieren würde, heute oder an einem anderen Tag: Dieses Wissen konnte sie vor dem Schlimmsten bewahren. Dieser Gedanke daran gab ihr so viel Hoffnung, dass die Angst in den Hintergrund trat. Und dann war da noch die Neugier, die vorsichtig in ihren Adern zu kribbeln begann. So blieb Rûna stumm und starr auf dem harten, kalten Boden sitzen und wartete ab, bis ihre Zeit gekommen war.

Bis dahin füllte sich das Langhaus zunehmend mit Menschen, die Rûna kannte. Sie sah Stallburschen und Wachen, die mit mürrischer Miene und angsterfüllten Blicken Platz nahmen. Sie sah die Köchin und Hedda, die mit blassen Gesichtern und glasigen Augen auf eine Bank an der Wand gesetzt wurden. Die neue Heilerin nahm jammernd unweit der beiden Frauen Platz, dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie sah Verwalter des Fürsten, Diener, Wachen und Boten, aber die wirklich wichtigen Männer waren fort. Die, die mit dem Fürsten gemeinsam schreckliche Entscheidungen getroffen hatten, die sich am Leid der Gegner und ihrer eigenen Leute erfreut hatten, die waren nicht hier, nicht in diesem Langhaus. Sie waren längst in eine andere Welt übergetreten oder sie hatten es noch rechtzeitig geschafft, Skarör zu verlassen. Sie hätten es verdient, allesamt, vom Rabenfürsten gerichtet zu werden, alle diese Leute hier waren nur Ablenkung.

Es verging viel Zeit, in denen sie tief in ihre Gedanken versunken war, während ihr Blick von Gesicht zu Gesicht huschte. Dann, nachdem ihr Magen mal wieder besonders laut geknurrt hatte, ging die Tür hinter dem Thron auf und der Rabenfürst trat mit seinen Männern ein. Groß und grimmig war er, mit schwarzen Kleidern und mit seinem noch schwärzeren Rabenvogel auf den Schultern. Sie konnte verstehen, warum sich die Leute vor ihm fürchteten und warum es so viele Geschichten über ihn gab: Er war beängstigend und faszinierend zugleich. Mit seiner Narbe im Gesicht, die ihre eigenen Hände versorgt hatten. Gespannt lauschte Rûna seinen Worten, wie er bestimmt und mit fester Stimme Anweisungen erteilte und über Menschen urteilte. Hart und harsch war er, er ließ sie spüren, dass er von oben auf sie herabblickte. Mit starrer Miene urteilte er auch über Hedda und Ida. Sogar von ihrer Position ganz hinten aus konnte Rûna sehen, wie Heddas Knie zitterten, als sie vor ihm stand. Er ließ einen seiner Männer sprechen und hob zu den meisten Urteilen lediglich zustimmend die Hand, während seine Blicke abwesend durch den Raum schweiften. Ganz so, als wären seine Gedanken noch nicht in diesem Raum angekommen.

So war Rûna überrascht, mit welcher Intensität er sie musterte, als sie nach einer Ewigkeit durch den Raum geführt wurde und vor ihm stehen blieb. Sie hob den Kopf erst, als er sie ansprach. So viel Wut in seiner Stimme, eiskalt und beinhart. Ganz anders als damals, allein in der Hütte, als er ruhig und schelmisch und sanft gewesen war. Kurz zuckte ihr Blick zur Narbe auf seiner Wange, die sie so oft berührt hatte, jedes Mal hatten ihre Fingerspitzen gekribbelt. Während er wütende und hässliche Worte zu ihr sprach, sah sie nicht den wütenden Rebellenführer, sie sah die Augen des verwundeten Kriegers und spürte seine warme Haut. Sie spürte ihre Hände kribbeln und erinnerte sich an die Gänsehaut, die ihren ganzen Körper überzogen hatte. Lange starrte sie in diese Augen, blau und tief, hell und kalt, so lange, bis ihre Gedanken wieder zurück in den Raum kehrten und sie sich ihrer Situation bewusst wurde.

„Was geschieht mit mir?", fragte sie und hoffte, mit all der Hoffnung, die ihr noch blieb, dass er sie nicht dazu zwang, ihr wertvollstes und liebstes Geheimnis heute Nacht mit der Welt zu teilen. Und er enttäuschte sie nicht. Er ließ all seine Wut über sie hinwegfegen, all die Wut, die er vor den anderen Verurteilten in diesem Raum versteckt hatte. Aber die Worte trafen sie nicht, denn bei all dem, was sie erwartete, konnte es nicht schlimmer werden als die letzten Monate in Gefangenschaft des Fürstens. Auch wenn er das niemals erfahren würde, so wusste sie es doch. Eine Weile würde sie bleiben und ihre Neugier nähren, dann, irgendwann, würde sie ihr Geheimnis lüften und verschwinden. Und dann würde sie frei sein, endlich.

So nahm sie seine Worte hin und zeigte keine Regung. Denn morgen würde die Sonne aufgehen und es würde ein neuer Tag anbrechen, der besser war als all die Tage, die sich in den letzten Monaten aneinandergereiht hatten. Sie hatte ihr Leben und ein Geheimnis, das ihr die Freiheit sichern konnte, und das war ihr genug in diesem Moment. Denn auch, wenn er sie hasste, so hatte sie ihn doch wiedergefunden. Den namenlosen Mann, der jeden Abend ihre Gedanken und Träume heimsuchte. Thorvald. Und auch, wenn diese Tür zu ihm für sie auf ewig verschlossen bleiben würde, so hatte sie doch die Möglichkeit bekommen, zu erfahren, was für ein Mann er außerhalb der Hütte im Wald war. Auch wenn das Risiko bestand, dass er sie enttäuschen würde.

Die Krieger, die sie abführten, brachten Rûna nicht zurück zum Stall. Sie brachten sie auch nicht in die Zellen, die sie so gut kannte. Sie brachten sie in den Teil des Langhauses, in dem die Bediensteten des Fürstens geschlafen und gelebt hatten. Rûna war allein und sie brachten ihr eine Schüssel mit frischem Wasser, Seife und einen hölzernen Teller mit Brot und geröstetem Fleisch. Sie hatte Mühe, die Krieger anzuschauen und ihnen aufrichtig Danke zu sagen, bevor sie über das Essen herfiel und sich im Anschluss daran mit dem kalten Wasser wusch. In einer Truhe in der Ecke fand sie ein einfaches aber sauberes Kleid aus grauem Leinen, das sie überzog. Dann nahm sie sich eine Decke und kroch auf ein einfaches Nachtlager aus losem Heu, das sich nach all der Zeit beinahe so gut anfühlte wie das Bett in Lyriann. Rûna seufzte tief, als sie die dunkle Decke der Kammer anstarrte und der Musik und dem Gegrölte der feiernden Menge von draußen zuhörte. Hulda hatte falsch gelegen: Die Rebellen hatten ihr nicht das Leben genommen, sie hatten ihr die Möglichkeit auf ein Leben gegeben. Und das erfüllte sie mit einem kleinen Pflänzchen Hoffnung.

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