58. Des Schicksals Schwingen

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„Rûna!", rief Thorvald, die Wut verdrängte die Traurigkeit in seiner Stimme. „Rûna, bleib stehen!" Sie hörte ihm nicht zu, lief weiter, den Kopf gesenkt. Da erinnerte er sich an den einen Gegenstand, der sie aufhalten konnte. Der ihm etwas Zeit kaufen konnte. Zeit, um die richtigen Worte zu finden. „Ich habe deine Kette gefunden", rief er schließlich.

Seine Worte ließen sie erst stocken, dann blieb sie stehen. Langsam drehte sie sich um, er konnte die Spuren der Tränen auf ihren Wangen erkennen.

„Meine Kette?" Thorvald nickte und lief zu ihr. Er blieb vor ihr stehen, griff nach dem ledernen Band unter seiner Kleidung und zog es, mitsamt des Rabenanhängers, hervor. Ihre Augen weiteten sich, ihr Atem stockte. „Du hast meine Kette gefunden." Ein müdes Lächeln fand ihre Mundwinkel, es hellte ihr schönes Gesicht für einen Wimpernschlag auf. Sie streckte ihre Hand aus und er legte das warme Stück Metall auf ihre Handfläche. „Danke", flüsterte sie und umschloss das schöne Schmuckstück. Dann zog sie die Kette hastig an und ließ sie unter ihrem Mantel verschwinden. „Sie bedeutet mir sehr viel." Er nickte und wollte gerade zu sprechen beginnen, als sie sich wieder umdrehte, um weiterzugehen. Da griff er ihre Hand. Er hatte diese eine Chance, dieser eine Moment war alles, was ihm blieb.

„Sag mir, Rûna, wovor läufst du davon?" Sie seufzte tief, schloss die Augen dabei.

„Vor der Vergangenheit, vor dem Schicksal, vor den Ketten, die mich gefangen hielten und wieder auf mich warten. Und vor dir. Wohl vor allem." Sie blickte ihm tief in die Augen, Tränen glitzerten dort. Ihr Ausdruck so ehrlich, so verzweifelt, dass es ihm die Luft raubte. „Ich will frei sein, Thorvald! Ich will zum ersten Mal in meinem Leben das tun, was ich möchte. Endlich." Ihre Stimme begann zu zittern, als sie weitersprach. „Du hast mir mein Leben gerettet, aber im selben Moment hast du es, ohne es zu wissen, zerstört. Seit dem Sturz in das Opferloch war ich nicht mehr frei. An manchen Tagen hat es sich vielleicht so angefühlt, aber es war niemals echt. Ich habe viele Fehler gemacht, Thorvald, Schuld auf mich geladen und es tut mir leid." Ihre Stimme brach, sie begann zu schluchzen. „Aber jetzt lass mich gehen. In die Freiheit."

Sein Herz setzte einen Schlag aus, die Wut verschwand aus seinem Körper. Er ließ seine Instinkte übernehmen und trat einen Schritt auf sie zu. Er schloss seine Arme um sie, zog sie fest an sich heran. Zuerst wehrte sie sich, legte ihre Hand auf seine Brust und drückte ihn fort. Doch dann ließ sie ihren Kopf gegen seine Brust sinken und weinte und schluchzte so laut, dass die Vögel und Tiere im angrenzenden Wald verstummten. Er hielt sie und hörte ihr zu, jeder ihrer Schluchzer tat auch ihm weh.

„Ich fürchte, Rûna, du hast genauso viel Angst vor dem, was zwischen uns ist, wie ich", stellte er nach einer halben Ewigkeit fest. Es tat so gut, die Worte auszusprechen. Er blickte in ihre rot geweinten Augen, sah die Tränen auf ihren Wangen und die leicht geschwollenen Lippen. Da beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie.

Sie ließ sich von ihm halten und drängte sich enger an ihn, noch immer den seltsamen Stab in der Hand. Als der Kuss wärmer wurde, fordernder, da öffnete sie ihren Mund und ließ ihn ein. Ließ ihn mit ihrer Zunge tanzen und seufzte sanft, wenn er vorsichtig auf ihre Lippe biss. Nein, dachte Thorvald, das was zwischen ihnen war, das hatte er sich nicht eingebildet. Haldor hatte es gespürt, der verletzte Blinde im Wald hatte es gespürt und er spürte es ebenfalls, mit jeder Faser seines Körpers. Das, was zwischen ihnen war, war Magie. Und Liebe. Es war Hoffnung. Das Ende der Wut. Und noch so viel mehr.

„Komm mit mir", flüsterte er zwischen zwei Küssen. „Geh zurück mit mir nach Skarör und ich verspreche dir, dass ich auch dort mein Wort halten werde: Du darfst jederzeit gehen, wann immer du willst. Aber gib' uns eine Chance." Sie schwieg lange, atmete geräuschvoll ein und aus. Dann trat sie einen Schritt zurück, stützte sich auf den Stab.

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