Kyle

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Grelles Weiß. Ich kniff die Augen zusammen.

Das Licht. Das waren keine Laternen, genauso wenig, wie das Rattern, das ich gehört hatte, vom Zug stammte.

Hubschrauber. Mindestens zwei, vielleicht drei. Das Licht waren ihre Scheinwerfer.

Ich musste das sehen. Ich konnte nicht weiter hier im Inneren des Zugs herumstehen und wertvolle Sekunden verschwenden. Die Menschen dort auf dem Bahngleis waren in Ordnung, wenn auch ein wenig desorientiert und geschockt. Ich zog Katja mit mir, die mit aufgesperrten Augen in Richtung Himmel schaute.

Ich nahm den Schritt nach unten auf den Bahngleis und half auch Katja herüber. Das Erste, was ich bemerkte, war, wie kalt es geworden war. Die Temperatur schien unter dem Gefrierpunkt zu liegen und ich hatte keine Jacke mitgenommen. Mein Hemd allein bietete wenig Schutz vor der Kälte.

Oben. Dort waren sie, zwei Hubschrauber, schwach abgezeichnet über den dunklen Wolken. Sie verharrten regungslos dort in der Luft, nur ihre Rotorblätter bewegten sich mit einem höllischen Lärm und erzeugten eine Art Wind, der von oben auf uns hinabdrückte. Vorne war an beiden ein Scheinwerfer befestigt, der gerade nach unten schien und die Szene in sein kalt weißes Licht tauchte. Weiter links, dort wo die erste Klasse des Zugs ausgestiegen sein musste, waren noch zwei Lichtkegel, also mussten sich dort wohl auch noch zwei weitere Hubschrauber befinden.

Die Stimme von vorher dröhnte aus einem Megafon, sie kam von oben, aus einem der Hubschrauber. "Alle stellen sich mit ihrem Gepäck in die Markierungen auf dem Boden, mit der Zahl, die ihrer Wagennummer entspricht. Jetzt. Es handelt sich hier nur um eine Sicherheitsmaßnahme, befolgen Sie die Anweisungen und Sie kommen in den neuen Zug."

Die Markierungen. Ich musste sie sehen. Ich drängte mich durch die Menge, schob die vollkommen reglosen Menschen mit meinen Ellbogen beiseite. Sie waren wie Rehe, die im Scheinwerferlicht verharrten, da konnte auch das Megafon nichts ausrichten. Als ich endlich ganz vorne stand, hob ich die Hand über meine Augen, um das Licht abzuschirmen und blinzelte die Tränen weg. Meine Sicht klärte sich wieder. Und da waren sie.

Weiße Quadrate aus Kreide von etwa zehn Metern Kantenlänge waren der Länge des Bahnsteigs nach auf das Pflaster gemalt. Hinter jedem von ihnen standen jeweils eine vermummte Person in Weiß, die ein Schild mit einer Zahl als Aufschrift in der Hand hielt. Die Zahlen waren von links, der ersten Klasse bis zum letzten Wagen rechts von mir durchnummeriert, von 1 bis 9.

"Bitte beeilen Sie sich und treten Sie einfach in die Quadrate mit der Zahl Ihres Wagens. Dort werden Sie durchgezählt und anschließend können Sie gehen."

Direkt vor mir war das Quadrat mit der Nummer 6, unsere Wagennummer. Ich beobachtete den Fremden, der das Schild in der Hand hielt. Er trug einen dieser Schutzanzüge, die die Ärzte bei der Behandlung von Seuchen tragen, diese weiten, mit Luft gefüllten Anzüge wie der Raumanzug eines Astronauten. Der Unbekannte in Weiß wirkte damit nicht einmal menschlich, sein Gesicht war hinter dem dunklen Visier des Anzugs kaum zu erkennen, sonst verharrte er reglos, nur der Pfahl mit dem Schild in der Hand.

"Was zur Hölle ist das hier alles?", hauchte Katja, die auf einmal neben mir stand.

"Ich sagte doch, das ist etwas Großes."

"Vier Hubschrauber und diese Typen mit den Anzügen? Das sieht aus wie eine Operation vom FBI oder der CIA oder sonst irgendwem."

"Die gibt es in Deutschland nicht."

"Ich frage mich jedenfalls, wie sie die Leute dazu bringen wollen, sich da in diese Kreidefelder zu stellen. Die bewegen sich keinen Zentimeter. Eher gehen sie noch zurück in den ICE."

Das dachte ich auch. Organisation hin oder her, der ohrenbetäubene Lärm und das beißende Licht hatten die Leute nur verschreckt. Einige von ihnen machten Aufnahmen mit ihren Handys. Ich blickte den Bahnsteig hinab zu den anderen Wägen, wo die Situation dieselbe war. Bisher war noch niemand auf der Mitte des Bahnsteigs in einer der Markierungen. Ich suchte nach Noel, der nun ganz vorne sein musste und hoffentlich ein Wort mit dem Lokführer sprechen konnte. Oder der Lokführerin, wie ich nun eher vermutete, denn die Stimme des falschen Lokführers hatten wir schließlich alle gerade von einem der Hubschrauber kommen gehört.

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