Normale Tage

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Normale Tage

Vivienne war wach, doch der Tag hatte für sie noch nicht begonnen. Die Sonne selbst schien noch im Halbschlaf zu hängen wie in einem klebrigen Spinnennetz. Ein Tag fing erst an, wenn sie sich aus dem Bett und zum aufzustehen, zwang. Sie sank tiefer in die warmen Decken ihres Bettes, das morgens immer viel bequemer als abends und genoss die letzten Minuten vor dem Alarm des Weckers. Biep, biep, biep – Schluss. 

Zeit sich der Realität zu stellen. Auf steifen Beinen torkelte sie ins Badezimmer, schaltete das Radio ein und begann sich die Zähne zu putzen.  Wetter... Lokalnachrichten... Musik. Mit einem halben Ohr lauschte sie den rauschenden Stimmen aus dem Radio, doch eigentlich war es vollkommen egal, wovon sie sprachen. Nur keine Stille. Vivienne Miles war einer der Menschen, die tausend Dinge gleichzeitig im Kopf herumschwirren hatten. Jeder Gedanke musste erst an Ort und Stelle gefrieren, dann konnte man sich darum kümmern, was getan werden musste. 

Immer mit der Sorge Wichtiges aus dem Auge zu verlieren. 

Sie konnte es nicht ausstehen zu merken wie sich ihre Ideen manchmal einfach davon wanderten, ohne sich zu verabschieden oder sich und ohne die Absicht sich jemals wieder blicken zu lassen. 

Doch das Radio half. In Viviennes Kopf herrschte angenehme Leere, in der die Wortfetzen der Moderatoren und Sänger dumpf wiederhallten. Ohne jegliche Bedeutung.

Wetter: kalt aber klar, Lokalnachrichten: Polizei ratlos in Ermittlung um verschwundene Personen, Bürgermeister weiht Mall ein, Musik: die Top 100 rauf und runter. Mehr nicht. Wen interessierts? 

Vivienne Miles hatte eine harte Zeit hinter sich. Die Trennung von einem geliebten Menschen, der sie manipuliert und in Trümmern zurück gelassen hatte. Arthur Morgan. Manchmal dachte Vivienne, dass es vermutlich kindisch war, sich immer noch so sehr damit zu beschäftigen. Allerdings konnte sie nichts dafür, dass sie verletzt war und es ließ sich auch nicht ohne weiteres abschalten. 

Draußen wehte ein eisiger Winterwind, der einem gegen die Wangen schlug und in die Nase biss. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und mit gesenktem Blick stapfte Vivienne in Richtung Büro.

Es war ein Arbeitstag, wie jeder andere auch. Vivienne stürzte sich auf ihre Arbeit, in der Buchhaltung. Sie mochte ihren Job, auch, wenn er nicht der aufregendste war. 

Sie mochte es ihre Aufgaben zu organisieren und abzuarbeiten. Das hier war ihr Reich und seit der Trennung hatte sie sich ihm mehr und mehr zugewandt.

Aber das war nicht schlecht. 

Kurz vor der Mittagspause drängte sich das Geräusch eines klingelnden Telefons durch die stickige Büroluft und wurde schnell erstickt.

„Vivienne Miles am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?“ 

„Spar dir die Businessstimme, Ich bin's.“

Sie erkannte die Stimme sofort, es war Sarah Brooks. Und sie hatte recht, Vivienne verstellte ihre Stimme tatsächlich, wenn es um berufliche Gespräche ging. Etwas tiefer, neutral aber tiefer. 

„Na gut und wie kann ich dir helfen, Sarah?“ Fragte sie mit ungeheucheltem Interesse.

Sarah Brooks rief sie nicht oft an, eher stand sie unangemeldet aber mit Pizza oder einer Flasche Sekt vor Viviennes Tür. Das war Gebühr genug um Eintreten zu dürfen, da war Vivienne nicht wählerisch.

„Morgen ist doch dein freier Tag, richtig?“ Fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung säuselnden Stimme.

„Stimmt.“ Bestätigte Vivienne prompt. 

„Möchtest du brunchen gehen? In dem neuen Café auf der Woodstreet?“ 

Vivienne hielt viel von diesem Vorschlag, Mittagessen zum Frühstück war genau das Richtige für einen freien Tag. Oder war es anders herum? 

Nach der Planung der Einzelheiten legte Sarah auf. Sie wollte sich den Gesprächsstoff für den nächsten Tag aufheben sagte sie.

Die Zeiger der Uhr wanderten über das Zifferblatt, doch Vivienne sah nicht hin. Denn nach der Arbeit war es Zeit für Arbeit an sich selbst. Und ein Gespräch mit ihrer Therapeutin. 

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