Frau Doktor

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Vivienne fuhr mit dem Bus zur Praxis, wie sie es meistens tat. Diese Fahrten hatten etwas rituelles an sich, das Vivienne mochte. Sie waren Bestätigungen dafür, dass sie sich und ihren Zustand wirklich bessern wollte.

Das Gefährt war voll und es gab keinen freien Sitzplatz mehr, al sie dort einstieg. Die Fahrt dauerte jedoch ohnehin nicht lange und nach einem Tag des Sitzens im Büro stand Vivienne gerne eine Weile. So stand sie zwischen ein Paar anderen fahrgästen und versuchte in den Kurven, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in sie reinzufallen. Ihr Blick war starr gerade aus, durch eines der großen Fenster, gerichtet.

Die Welt draußen flog so an ihr vorbei und Viviennes müde Augen akzeptierten es, doch bequemten sich nicht dazu, sie wirklich wahr zu nehmen. Aber sie wusste, dass auch die ganzen kleinen Geschäfte, an denen sie vorbeifuhren, dabei waren zu schließen. Angestellte trugen die Schilder rein, die auf den Bürgersteigen standen und hier und da konnte man Leuten beim Fegen beobachten, hätte man das gewollt.

Dumpf lief auch hier das Radio, doch sie stand im hinteren Teil des Wagens und konnte es kaum hören. Sie hatte zunächst angestrengt versucht, herauszuhören, welches Lied sie spielten, aber die Musikfetzen alleine waren nicht genug , um sich sicher zu sein.

Der Bus hielt an einer Ampel und Vivienne schob sich etwas ins Sichtfeld, dass sie in kaltem Schreck zusammenzucken ließ. Es war ein Plakat.

"Vermisst. Maria Smith. Bei Hinweisen bitte die Polizei kontaktieren."

Das waren die fett gedruckten Teile des Aushangs, der an einer Gebäudewand befestigt war. In der rechten Hälfte des Plakates waren etwas kleiner weitere Informationen gedruckt, doch Vivienne, deren augen nun gar nicht mehr müde, sondern hellwach und tellergroß waren, musterte die andere Seite. Dort abgedruckt war ein Foto. Sie kannte diese Frau, die in schwarz und weiß vom Papier direkt in ihre Augen sah und ihre strahlenden Zähne in einem freundlichen Lächeln präsentierte.

Der Bus setzte sich wieder in Bewegung und die stehenden Passagiere durchfuhr ein kleiner Ruck.

Viviennes Gedanken hingen dem Plakat hinterher und das Gesicht von Maria Smith wollte nicht vor ihrem geistigen Auge verschwinden.

Die Vermisste war eine Kellnerin in einem kleinen italienischen Restaurant. Es zählte zu Viviennes Favoriten hier in der Stadt und sie war oft dort gewesen seit sie herzog.

Maria Smith heißt sie also...

Sie sprachen nicht viel miteinander außerhalb ihrer Pastabestellungen aber Maria Smith war immer sehr zuvorkommend und freundlich gewesen. Sie hatte Viviennes Standardbestellungen schnell raus. Sie war außerdem sehr hübsch. Mit ihren dunklen Locken und großen braunen Augen passte sie nur zu perfekt in die kitschige pseudoitalienische Kulisse. Dabei war sich Vivienne nicht einmal sicher, ob Maria selbst Italienerin war. Sie sprach vollkommen akzentfrei.

Sie macht wahrscheinlich wahnsinnig viel Trinkgeld...

Machte.

Vivienne schüttelte den Kopf. Es muss ausgesehen haben, als wollte si sich eine Strähne aus dem Gesicht pusten. Bestimmt handelte es sich um irgendeine Art von Missverständnis. Das musste es sein. Es gab so viele Arten dummer Zufälle und Vivienne hatte nun wirklich nicht genug Ahnung über das Leben der Kellnerin, als dass, sie da Vermutungen anstellen könnte! Aber wenn sie ehrlich war, wusste Vivienne, dass sie noch lange und bei jeder Fahrt überprüfen würde, ob das Plakat an seinem Platz blieb. Vielleicht würde sie auch noch das ein oder andere Mal an dem Restaurant vorbei spazieren und unauffällig einen Blick rein werfen, ob Maria Smith doch wieder zurück war.

Der Bus hielt und Vivienne zwängte sich raus. Die Praxis von Frau Doktor Francis Bloom-Thornton war nicht weit von hier. Sie befand sich im zweiten Stock eines Hauses, das mehrere Arztpraxen aller Art beherbergte. Der Geruch in dem Gebäude war nicht unangenehm aber sehr charakteristisch. Vivienne merkte es bei jedem tiefen Atemzug wieder, den sie im Treppenhaus machte. Sie war immer etwas nervös, wenn sie sich den Weg hinauf zu ihrer Therapeutin machte, was wohl daran lag, wie viel bei diesen Sitzungen aufgewirbelt werden konnte... Dinge, über die Vivienne zuvor gar nicht nachgedacht hatte oder für unmöglich hielt, schienen für die schlaue Frau im anderen Sessel jedoch fast immer wie eine Selbstverständlichkeit. Als sei sie eine Art Hexe oder Hellseherin.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 20, 2022 ⏰

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