Prolog: Rabenkind und Mondkind

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Die erste Frau ließ ihren Blick über die Dächer und Zinnen des Palastes schweifen. War er schon da? Beobachtete er sie bereits?

Sie hob die rechte Hand, um ihre Augen vor der untergehenden Sonne abzuschirmen. Die Bewegung ließ die zahllosen Armreifen an ihrem Handgelenk klirren und der auffrischende Wind trug die zarten Töne mit sich fort über die hohen Palastmauern hinweg gen Wüste.

Die Sonne war bereits weit herabgesunken und die letzten goldenen Strahlen ließen die Kuppel des Palastminaretts glänzen wie eine Teekanne aus Goldmessing. Der ganze Himmel leuchtete in den satten Farben, die die Haremsdamen so liebten: Orange, Rot, Pink und Violett.

Der Anblick bereitete ihr Migräne und sie kniff die Augen zusammen, während sie den Abendhimmel weiter absuchte. Würde er kommen? Würde er ihr helfen? Sie hoffte darauf und gleichzeitig fürchtete sie sich davor. Sie zog ihren hauchzarten, türkisen Schleier etwas tiefer ins Gesicht, sodass er ihre Augen vor den grellen Farben schützte. Keine der anderen Frauen trug Türkis. Diese Farbe war ihr allein vorbehalten. Sie war die Haseki Sultan. Und sie würde es bleiben.

Die Farbe vermag Einsamkeit zu lindern. So hatte ihre Mutter es ihr erzählt. Nun, sie hatte keinen Vergleich. Anfangs trug sie die türkisenen Stoffe, weil sie ihre Augen betonten und sie strahlen ließen wie echte Aquamarine. Dieses Kompliment hatte ihr der Sultan vor ihrer ersten Nacht gemacht und sie verwahrte es fest in ihrem Herzen. Aber das war schon drei Jahre her und nun trug sie Türkis vor allem, um sich von den anderen Frauen abzugrenzen und ihren Stand zu demonstrieren. Sie war keine Konkubine. Sie war die erste Frau und sie würde allen Tratschereien am Hofe zum Trotz ihrer Pflicht nachkommen.

Auf den dicken, hellen Palastmauern entdeckte sie zwei Kolkraben. Ihr aufgeregtes Krächzen ging ihr bis ins Mark. Ist es womöglich einer von denen? Ihr Brustkorb hob und senkte sich schneller, während sie die Vögel nicht aus den Augen ließ. Nein, die Raben stritten um irgendetwas Essbares. Der eine hielt es im Schnabel, während der andere danach hackte, um es ihm wegzuschnappen. Wahrscheinlich irgendein Abfall. Erleichterung durchströmte sie und sie atmete wieder tiefer in den Bauch. Sie kicherte sogar, denn ein Futterstreit wäre unter der Würde des Großwesirs. Die Vorstellung, wie der hohe Beamte auf der Mauer hockte und sich mit einem Raben um Abfall zankte, erheiterte sie, dennoch konnte sie die Beklemmung, die sie bei dem Gedanken an diesen mächtigen Mann empfand nicht abschütteln. Sie schob den Gedanken an ihn schnell zur Seite. Sie hatte sich entschieden und konnte nun keinen Rückzieher mehr machen. Über ihre in zartem Aprikot geschminkten Lippen stahl sich ein Seufzer und im selben Moment erschien ihr eine Kindheitserinnerung vor Augen. Statt der hellen, dicken Palastmauern vor sich, sah sie Barren aus süßem, weißen Schichtnougat – ihrer Lieblingsleckerei als kleines Mädchen.

Sie war als Älteste von sechs Geschwistern aufgewachsen und ihre Eltern hatten von ihr stets Verständnis und Verzicht gegenüber ihren jüngeren Geschwistern gefordert. Besonders wenn es dabei um Süßigkeiten ging, war ihr das Opfer schwergefallen, und am allerschwersten bei süßem Nougat. Wie oft war sie leer ausgegangen und hatte zusehen müssen, wie die köstlichen Happen in den Mündern ihrer Geschwister verschwanden.

Sie hatte es stets gehasst zu teilen und sie hatte es noch mehr gehasst zu verzichten.

Doch um süßen Nougat ging es längst nicht mehr. Und die Zuneigung des Mannes zu teilen, nach dem sie sich verzehrte und dessen bloßer Anblick ihr Blut zum Kochen brachte, war noch bitterer als auf köstliches Konfekt oder Honiggebäck verzichten zu müssen. Denn das Problem war: Sie liebte ihn. Sie liebte ihn nicht weniger als hellen Nougat mit Pistazien.

Oh, und der Sultan liebte sie, keine Frage. Sie war seine erste Frau und wenn sie sich vereinigten, kam für sie beide der Himmel auf Erden. Dennoch wusste sie, dass in diesem Moment, als sie das Rot des Abendhimmels vor sich sah, eine der anderen Frauen ihrem Mann mit gespreizten Schenkeln Einlass in ihre intimste Röte gewährte. Und dass er sie hemmungslos und ohne einen Gedanken an sie, seine erste Frau zu vergeuden, nehmen würde, bis es ihm genug war.

Der Wunschfisch - Eine Geschichte aus 1001 NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt