Der Gesang der Blauracke

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Der neue Tag begann für mich, wie immer, noch vor dem ersten Ruf des Muezzin.

Ich krabbelte flink aus meinem Bett, das in der hintersten Ecke unserer kleinen Lehmhütte stand, ganz darauf bedacht Halim, dessen Bett direkt an meins anstieß, nicht zu wecken. Aus Platzgründen standen die Betten von uns Geschwistern direkt aneinander, sonst wäre unsere bescheidene Hütte nur durch unsere Betten schon gänzlich vollgestellt. Nur Mutter hatte einen Raum für sich, aus Respekt vor dem Alter, wie sie scherzhaft sagte. Raed wollte eigentlich, dass ich mit meinem Bett zu ihr ziehe, da ich ja nun schon lange kein Kind mehr war. Da hatte er ja auch Recht, aber das hatte ich bisher trotzdem noch hinausgezögert. Ich schlief gern bei meinen Brüdern. So wie früher als Kinder, als wir immer von einem Bett zum anderen gehüpft sind oder uns vor dem Einschlafen die Märchen von Ali Baba oder Sindbad erzählt hatten.

Halim hatte sich das dünne Laken bis hoch zum Kopf gezogen, seine Nase schaute gerade so heraus. Sein sehniger Körper war unter dem Laken zusammengerollt. Seine Schlafhaltung glich einer Wüstensandboa, die im Sand vergraben auf Beute wartet. Wobei man Halim jetzt auch ein köstlich gefülltes Brik* direkt vor die Nase halten könnte, ich war mir sicher, er würde sich nicht rühren.

Raed lag neben ihm auf dem Rücken, sein Atem war ganz flach. Er glich einer Statue, wie er da auf dem weißen Laken lag. Das Decklaken war ihm bis zum Bauch runter gerutscht. Seine ockerfarbene Haut schimmerte wie Wüstensand sanft im fahlen Licht des Morgens und seine samtenen, schwarzen Locken umrahmten sein Gesicht mit dem markanten Kinn wie der passende Rahmen um ein schönes Gemälde und seine Züge waren ganz entspannt und friedlich. Ich seufzte leise bei diesem Anblick, warum konnte er nicht immer so friedvoll sein?

Spätestens beim Ruf des Muezzin, würde sein Gesicht wieder einer versteinerten Maske gleichen, die seine rabenschwarze Laune trefflich zur Schau trägt. Denn pflichtbewusst wie er war, würde er zwar pünktlich zum ersten Gebet aufstehen, aber eigentlich würde er viel lieber liegen bleiben, so wie Halim, der das erste Gebet regelmäßig ausfallen lies, mit der Begründung, so hätte er mehr Energie für die anderen Gebete des Tages.

Nein, meine Brüder waren beide keine Frühaufsteher.

Ich lächelte, denn ich war da ganz anders. Ich liebte den frühen Morgen, auch deswegen nannte mich Vater früher liebevoll Ta'ir* und fügte mit einem Augenzwinkern stets hinzu "der frühe Vogel, fängt den Wurm", da ich wie eine Blauracke schon in den frühen Morgenstunden auf den Beinen war, allerdings nicht um Würmer zu fangen, sondern um den neuen Tag zu begrüßen. Früher konnte ich es kaum erwarten, Vater bei seiner Arbeit zu helfen und Mosaike zu legen, und nun gab es einfach so viel zu tun, dass es für mich einfach praktischer war, früh aufzustehen.

Ich lukte als erstes in die große Amphore, in der wir unser Wasser aufbewahrten. Es reichte gerade noch für eine kurze Katzenwäsche für mich. Dann sollte ich zum Brunnen gehen und neues holen.

Nach einer schnellen Wäsche zog ich mir eines meiner drei langen langärmligen Kleider über, mehr besaß ich nicht, aber das waren gerade genug zum wechseln, wenn eines gewaschen werden musste.

Dann schnappte ich mir unseren großen Krug um mich damit auf den Weg zum Brunnen zu machen.

Ich mochte den Brunnen, aber nur am Morgen. Später am Tag würden sich dort die älteren Herren aus dem Viertel versammeln. Sie saßen dann im Schatten beisammen und unterhielten sich stundenlang, auch wenn man leicht den Eindruck bekommen könnte, dass sie ganz mit sich beschäftigt sind, so wusste ich es doch besser. Ihren wachsamen Augen entging nichts. Wenn ich mich dort sehen lassen würde, hätte ich vermutlich schneller einen Verlobten als Halim zum Frühstück seine Chamiya* auffuttert.

Doch um diese Tageszeit musste ich mir darum noch keine Gedanken machen.

Da die Sonne noch nicht aufgegangen war, war die Luft noch recht kühl. Ich rannte also bis zum Brunnen, um in meinem dünnen Kleid nicht zu frieren, bedacht darauf den leeren, tönernen Krug so zu halten, dass ich beim rennen durch die schmalen Gassen, nicht ausversehen damit irgendwo anschlug.

Als ich den Brunnen erreicht hatte, waren meine Wangen rosa gefärbt. Auf dem steinernen Rand des Brunnens saß eine Blauracke und reckte ihren langen Hals in meine Richtung. Sie sah mich aufmerksam an. Ich stellte langsam den Tonkrug neben mir auf den Boden und betrachtete das schöne Tier.

Die großen, schlanken Vögel mit ihrem edlen türkis gefärbtem Kopf, dem zarttürkisenem Bauch und den schmuckvollen kräftig türkisenen Flügeln erinnerten mich immer ein bisschen an die Haseki Sultan höchstpersönlich, an die Frau des Sultans. Türkis war meine absolute Lieblingsfarbe und ich schätze ihre auch, denn ich hatte die Frau des Sultans noch nie in anderen Farben gesehen. Bei den Umzügen zu Ehren des Sultans und auch auf Bildern trug sie immer türkis.

"Guten Morgen", wisperte ich ihr leise zu.

Die Blauracke hielt den Kopf schief. Sie hatte so dunkle unergründliche Augen, dass ich mich unwillkürlich fragte, was dieser schöne Vogel, wohl schon alles gesehen hatte, in seinem Leben, welche Geheimnisse und Geschichten er erzählen konnte.

Die Blauracke krächzte wie als Antwort.

Diese zarten, eleganten Vögel, hatten eine überraschend tiefe Stimme und krächzten eher, als dass sie zielpten oder sangen.

Ich nahm den Krug wieder auf und näherte mich langsam.

"Hab keine Angst. Ich will nur Wasser holen."

Sie flog nicht davon, sondern hüpfte auf dem Rand des Brunnens ein kleines Stückchen zu Seite, dabei krächzte sie noch einmal.

Ich lachte leise. "Schon gut. Das reicht ja schon. Mehr Platz musst du mir nicht machen. Der Brunnen ist groß genug für uns zwei." Sie schaute mich mit ihren espressobraunen Augen an und nickte leicht.

Ich lehnte mich über den Brunnenrand um den Eimer langsam hochzuziehen und achtete dabei darauf, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, um die Blauracke nicht zu erschrecken.

Sie trippelte nach vorn an den Rand des Brunnens und spähte ebenfalls hinab.

"Ja siehst du, da kommt das klare Wasser", sagte ich in aufmunterndem Ton. Ich zog den Eimer das letzte Stück hoch und stellte ihn auf dem breiten Rand des Brunnens ab. Dann tauchte ich meine Hand in das kalte Nass ein und hielt dem Vogel auf meiner ausgestreckten Handfläche was von der kühlen Köstlichkeit hin.

"Möchtest du?", fragte ich sanft.

Der Vogel sah mich aufmerksam an und kam näher gehüpft.

Ich hielt den Atem an und wartete gespannt. Würde sie aus meiner Hand trinken?

Der Vogel schien unschlüssig. Er sah mich an und wiegte den Kopf nach rechts, sah auf meine Hand und wiegte den Kopf nach links. "Es ist gut", sagte ich aufmunternd. "Wir trinken das auch."

Sie hüpfte noch ein Stück zu mir. Sie saß jetzt so nah vor meiner Hand, dass meine ausgestreckten Finger schon fast ihren blasstürkisenen Bauch berührten.

"Tajra!" Der Ruf lies mich zusammenzucken und der Zauber des Moments war dahin, die Blauracke erhob sich und flatterte davon. Ich sah ihr hinterher, wie sich sich in die dämmernde, kühle Morgenluft erhob. Sie flog über dem Brunnen noch drei Kreise, dann flog sie über die Dächer davon.

Auch wenn diese Vögel mit ihrer stolzen Anmut der Frau des Sultans glichen, so waren sie doch freier, als diese jemals sein konnte.

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*Brik= gefüllte Teigtaschen

*Ta'ir=Vogel

*Chamiya=Süßigkeit auf Basis eines Nussmußes

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Der Wunschfisch - Eine Geschichte aus 1001 NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt