Kapitel 5

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Nach einigen Tagen war Doktor Iversen der Meinung, dass ich entlassen werden konnte. Mein Gang war etwas steif, und langsam aber sicher drangen die körperlichen Schmerzen, die sich zum Glück in Grenzen hielten, zu mir durch. In Zeitlupe lief ich mit den Entlassungspapieren den Flur entlang und konnte mich nicht überwinden, das Gebäude zu verlassen und mich der grausamen und einsamen Realität stellen.

Auf der anderen Seite wartete Sven, um mich nach Hause zu bringen und da ich nicht gedrängt werden wollte, hatte ich ihn gebeten, nicht hereinzukommen. Jetzt stand ich wie ein Feigling auf dem Absatz der Treppe und überlegte ernsthaft, ob mich ein Fall zu Erik und meinen Eltern bringen würde. Die Chance war jedoch gering, wenn ich die Stufen zählte.

Erst, als ich Svens sorgfältig zurückgegelte Haare vor der Tür sah, setzte ich mich wieder in Bewegung. Alles in mir schrie danach, nicht hinauszugehen, doch letztlich setzte ich einen Fuß nach draußen.

Sofort erfasste eine sanfte Windbrise mein Haar und spielte neckisch damit, gleichzeitig drang die salzige Luft tief in meine Lungen und erfrischte mich trotz der Wärme. Seit Mai herrschte 24 Stunden Tageslicht und erst Ende Juli würden die Tage Schritt für Schritt kürzer werden. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab, um das Meer mit seinem ausnahmsweise ruhigen Wellengang besser sehen zu können. Durch das Sonnenlicht glitzerte das Wasser wie unendlich viele Diamanten.

Ich schloss meine Augen und kämpfte gegen die Tränen an.

Sankt Hans ... Es hätte unser Sankt Hans werden sollen ...

Nichts war von unseren Träumen übriggeblieben.

„Hej, Freyja", grüßte Sven und nahm mich in den Arm.

Widerstandslos ließ ich die Begrüßung über mich ergehen, fasste mir dann ein Herz und umarmte ihn. Sven, aber auch Idun und ihre Tochter waren für mich da. Daran sollte ich festhalten, das wusste ich, auch wenn sich alles im Moment ausweglos anfühlte.

„Komm, ich habe eingekauft", flüsterte Sven und strich mir liebevoll die Haarsträhne hinter das Ohr. Er führte mich zu seinem Auto und hielt mir charmant die Tür auf, doch ich zögerte und hatte tatsächlich Angst, mich in den Wagen zu setzen. Die schrecklichen Bilder blitzten vor meinen Augen auf und lähmten mich.

„Freyja", sagte Sven sanft. Er nahm meine Hand und küsste einen Fingerknöchel nach dem anderen. „Alles ist gut. Es wird nichts passieren. Der Weg ist nicht weit."

Das stimmte allerdings. Unser Traumhaus war nicht weit entfernt und lag an der Küste in der Nähe des Andenes Stadions mit einem absolut traumhaften Blick aufs westliche Meer. Die Fahrt würde nur wenige Minuten dauern ...

Ich riss mich zusammen, ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und schnallte mich an. In der Zwischenzeit kam Sven auf die andere Seite und startete schließlich den Motor. Langsam fuhr er die Straßen entlang, was er sich nur aufgrund des wenigen Verkehrs um diese Uhrzeit leisten konnte.

Dankbar nahm ich das zur Kenntnis, und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren, doch die Erinnerungen an den Unfall überblendeten die an mir vorbeiziehenden Häuser. Ich hörte uns schreien, spürte, wie sich das Auto meiner Eltern überschlug und bevor ich gänzlich einen Nervenzusammenbruch bekam, hielt Sven sein Fahrzeug an.

„Wir sind da."

Seine Verkündung ließ mich blinzeln und durch einen verschleierten Blick erkannte ich unser Haus. Die Blumen auf der Terrasse und in den Blumenkästen erfreuten sich des Lebens, was ich Sven zu verdanken hatte. Immerhin sollte er sich in unserer Abwesenheit um sie kümmern.

Krampfhaft hielt ich meine Dokumente fest und starrte minutenlang auf unser Haus. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken, was wäre, wenn ...? Zu einer Antwort kam ich nicht, denn Sven legte die Hand auf meinen Oberschenkel und sprach mich an.

Midnight Sun - Ein Jahr zum Verlieben [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt