Kapitel 8

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Der angekündigte Sturm hatte es in sich. Die Wolken verdunkelten den Tageshimmel, sodass es nötig war, das Licht anzumachen und für etwaige Stromausfälle Kerzen vorzubereiten. In den meisten Häusern gab es deshalb noch eine zusätzliche Kochstelle, die mit Feuer betrieben wurde. Solche Stürme waren nicht unüblich, und dennoch sah ich mit Unbehagen auf die bleifarbene Wolkenwand. Der Wind peitschte über das Meer, bauschte die Wellen zu Höhen an, bei denen selbst die größten Schiffe stark ins Wanken gerieten und ließ den Regen wie Hagelkörner gegen die Fenster prasseln. Es erinnerte mich an ein Sturmfeuer aus einem Film, den ich mit Erik gesehen hatte.

Im Radio liefen Warnungen auf Norwegisch, Schwedisch, Finnisch und Englisch über herumfliegende Teile und auch, dass sich niemand am Strand aufhalten sollte. Für uns Anwohner waren die Warnungen nicht nötig, aber für wahnwitzige Touristen, die glaubten, tolle Bilder im Sturm machen zu können, konnten sie nicht genug sein. Wie viele Menschen durch ihre Dummheit erneut ihr Leben ließen, wollte ich mir nicht vorstellen.

Seufzend fuhr ich mir über mein Haar und schüttelte den Kopf.

„Kaffee ist fertig", ließ Sven wissen und ich drehte mich zu ihm um. Mein Angebot, ganz bei mir einzuziehen, hatte er überraschenderweise nicht abgelehnt. Ich war davon ausgegangen, dass er lieber Zeit für sich hätte und mit meiner Anwesenheit nicht ständig an seinen Bruder erinnert werden wollte.

„Danke", erwiderte ich und holte aus dem Ofen die Boller – norwegische, süße Hefeteigbrötchen –heraus. Wann immer ich buk, machte ich eine größere Portion und verschiedene Ausführungen, die von Zimtschnecken, Rosinenbrötchen bis mit Vanillepudding gefülltes Hefeteiggebäck reichte. Diese fror ich dann ein, um sie zum Nachmittagskaffee aufzutauen. Das Grundrezept war ein universales und konnte in allen erdenklichen Möglichkeiten abgewandelt werden. Erik hatte meine Koch- und Backkünste geliebt.

„Das riecht so gut", meinte Sven und sog den Duft der Zimtboller in sich auf.

Leicht lächelte ich. „Demnächst werde ich wieder backen. Der Vorrat ist beinahe aufgebraucht."

Nur noch wenige Päckchen waren in der Gefriere, was nicht nur Eriks Vorliebe für Boller, sondern auch meinem Vater zu verdanken war. Beide waren unbestrittene Meister im Verdrücken der Hefeteigstücke gewesen.

„Wenn du morgen ins Hotel gehst, kann ich den Einkauf auf dem Rückweg von meinem Termin erledigen", schlug Sven vor und biss mit einem sichtlich genussvollen Stöhnen in das warme Gebäck.

Im Gegensatz zu Erik war er eher der Typ, der deftiges zum Kaffee brauchte, aber nicht nein sagte, wenn ihm etwas Süßes angeboten wurde. Vielleicht sollte ich in Zukunft für Sven etwas Extra machen, immerhin wollte ich, dass er sich wohlfühlte und nicht glaubte, dass er Erik mit seiner Anwesenheit und Vorlieben ersetzen sollte.

„Das wäre lieb. Ich muss erst einmal zusehen, einen Einblick darin zu bekommen. Zum Glück ist Idun da, die weiß sicher, wo sich alle Dokumente befinden", seufzte ich und puhlte meinen Boller auseinander. Ich liebte das innere, saftige Teil aus Butter, Zimt und Zucker am liebsten und legte es zur Seite. Das würde ich am Schluss essen. Über diese Leidenschaft hatte sich Erik immer lustig gemacht, denn er war eher die Fraktion knusprig gewesen. „Ich schreibe dir eine Einkaufsliste. Wenn ich es schaffe, gehe ich zum Hafen und hole frischen Fisch. Der nächste Ausflug aufs Meer muss noch etwas warten", meinte ich bedrückt. Bevor ich mich dem Füllen der Gefriertruhe für den Winter widmen konnte, musste ich erst einmal alles im Hotel kennenlernen. Wie lange würde es dauern, bis ich mich in die Arbeit einfand? Niemand außer Idun und die Mitarbeiter waren da, mich in die Tätigkeit einzuführen, doch meine Eltern waren die Drahtzieher hinter allem gewesen.

„Das kann ich auch erledigen", bot Sven an. „Ich bin sowieso in der Nähe."

Einverstanden nickte ich und lehnte mich mit der Kruste meines Boller zurück. „Wobei ich gerade überlege, dass bei dem Sturm keiner auf hoher See sein wird", meinte ich nachdenklich.

Midnight Sun - Ein Jahr zum Verlieben [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt