Stundenlang saß ich im warmen Sand und beobachtete die Gezeiten, wie sich Ebbe und Flut ablösten. Ein Zusammenspiel der Natur, das mich seit der Kindheit faszinierte und manchmal sogar ein merkwürdiges Gefühl auslöste. Einige Wolken schoben sich vor die Sonne und es wurde merklich kühler, jedoch wollte ich noch nicht zurück. Die Ruhe der Natur half mir, meine Gedanken zu ordnen, auch wenn ich die meiste Zeit über weinte. Ein paar Menschen schlenderten den Strand entlang, hielten Händchen oder spielten mit ihren Kindern. Ein Stich der Wehmut und Sehnsucht breitete sich in meiner Brust aus und ich seufzte. Es hätte alles anders kommen sollen ...
Ein älteres Paar kam die Düne hinunterspaziert und ließen ihren Golden Retriever frei. Sofort kam er angerannt und schnupperte an mir und das erste Mal seit dem Unfall begann ich zu schmunzeln. „Na, Lyn, hast du Synni und Leiv so lange genervt, bis sie nachgegeben haben?", gluckste ich, als Lyn meine Hand anstupste und anfing, meine Tränen mit der Zunge zu beseitigen. Lachend hielt ich sie davon ab und quietschte leise. Hunde spürten die Stimmung der Menschen und Lyn war ein Hund, vor dem man sich nicht verstellen konnte. Sobald man traurig war, wich er nicht mehr von der Seite. So wie in meinem Fall, als Synni und Leiv uns erreichten.
„Hallo Freyja", grüßten sie und ich bemerkte, dass sie mit Sicherheit etwas erfahren hatten. Sie ließen sich neben mich nieder und schwiegen solange, bis Lyn sich einigermaßen beruhigte und sich wieder auf sein geliebtes Spielzeug, das er beim Herrennen verloren hatte, konzentrierte. Ballspielen und im Wasser planschen waren für ihn das größte Glück, weshalb ich seinen quietschbunten Ball immer wieder ins Meer warf. Mit einem freudigen Bellen sprang Lyn hinterher und brachte ihn zurück. Bei uns angekommen, schüttelte er sich und Millionen feiner Wassertropfen benetzten uns.
„Es tut uns leid, was geschehen ist, Freyja", sagte Synni mitleidig und legte mir die Hand auf meinen Arm.
Niedergeschlagen senkte ich den Blick und nickte. „Mir auch", brachte ich gerade noch so hervor, bevor meine Stimme versagte.
Das Ehepaar, das sich vor einigen Jahren in Andenes niedergelassen hatte, um die Pensionierung zu genießen, legte die Arme um mich. Sanft wurde ich an sie gedrückt und in stiller Trauer blieben wir einige Minuten sitzen. Dann versprachen die beiden, dass ich jederzeit zu ihnen kommen konnte. Es war in unserer kleinen Kommune, in der gerade mal um die 4500 Einwohner lebten, normal, dass sich die meisten auf irgendeinem Weg kannten. Brauchte man Hilfe, gab es genug Leute, die da waren.
„Danke", schniefte ich und da Lyn energisch darum bettelte, dem Ball hinterherzuspringen, lachte ich. Immer wieder stupste der Golden Retriever ihn an, bis er mitsamt dem Sand auf meinem Schoss landete. „Du hast gewonnen, Lyn", sagte ich, wischte mir die Tränen aus den Augen und warf sein Lieblingsspielzeug ins Meer. Sofort setzte sich Lyn in Bewegung und raste mit einem Bellen hinterher. „Er wird sich nie ändern", meinte ich selig lächelnd. Hunde waren wie eine Therapie und ich wurde traurig, da Erik und ich uns ebenfalls einen Hund zulegen wollten.
Ich kann auch ohne ihn einen Hund kaufen.
Vielleicht würde ich das zur gegebenen Zeit tun, wenn ich mich mit mir selbst auseinandergesetzt hatte. Jetzt allerdings stand ich auf und klopfte mir den Sand ab. „Ich gehe noch ein wenig spazieren. Wir sehen uns", verabschiedete ich mich mit einer innigen Umarmung, ehe ich in entgegengesetzter Richtung davontrottete. Seltsamerweise wurde meine Trauer durch Leivs und Synnis Worten in einen sanften Kokon gewickelt und ich konnte das Wetter und die Aussicht genießen. Erst, als sich die Sonne gen Norden wandte, kehrte ich langsam um. Ich hielt mich bereits stundenlang am Strand auf und ich wollte nicht, dass sich Sven unnötig Sorgen machte.
Schließlich erreichte ich unser Haus, ließ mich aber erst einmal auf der Terrasse nieder, um den Sand von meinen Füßen zu bekommen. Die Balkontür ging auf und Sven sah hinaus.
„Alles in Ordnung? Du warst lange weg", bemerkte er.
„Ich habe Leiv und Synni am Strand getroffen. Du weißt doch, dass Lyn so verrückt nach Ballspielen ist", erwiderte ich. „Ich komme gleich hinein", versprach ich.
Sven lächelte und hielt mir ein Glas selbstgepressten Apfelsafts aus dem Vorjahr hin. Ich liebte es, selbstgemachte Säfte zu trinken. Sie waren einfach herzustellen und wenn sie in Behälter abgefüllt wurden, auch lange im Gefrierfach haltbar. Mir war völlig entgangen, dass Sven einen herausgeholt hatte.
„Danke", meinte ich und trank in großen Schlucken das Glas leer. „Das tat gut. Meine Kehle war schon ganz trocken." Zufrieden rieb ich meine Füße noch einmal aneinander und stand schließlich auf. Es war Zeit, eine Kleinigkeit zu essen und danach würde ich – eigentlich völlig untypisch für mich – ins Bett gehen. Ich wusste nicht weshalb, doch am Strand hatte ich neue Energie bekommen, die bei der Heimkehr im Nichts verpufft war.
Sven schien mich zu verstehen, denn er nickte und bot an, eine Kleinigkeit zuzubereiten, während ich mich bettfertig machte.
„Bitte auch einen Tee mit Rum", bat ich seufzend. Ich hoffte, dass der Alkohol mir zu einem ruhigen Schlaf verhalf. Ein Schuss davon im Tee wärmte und würde bestimmt die plötzlich eisige Kälte in mir vertreiben. Gerade im Winter tranken wir gerne Tee mit ein bisschen Rum.
„Das ist ein Getränk für Seefahrer", war Eriks Meinung dazu. Da wir oft mit dem Boot fischen gingen, stimmte es sogar.
„Bereite ich dir zu", versprach Sven und ich ging nach oben, um mich umzuziehen.
Wenig später lag ich eingemummelt im Bett und schluchzte leise. Alles roch nach Erik und so vertraut, dass ich nicht wusste, wie ich mein Leben ohne ihn weiterführen sollte. Ich sollte das Hotel meiner Eltern übernehmen und mich darauf konzentrieren. Aber was, wenn ich es durch mein Unwissen in den Ruin trieb? Dann war das Lebenswerk meiner Eltern für immer verloren und ich wollte, dass sie selbst im Himmel stolz auf mich sein konnten. „Werde ich es allein schaffen?", murmelte ich vor mich hin. Idun war auch noch da, genau wie die Angestellten. Gemeinsam sollten wir es doch wohl hinbekommen, das Hotel zu erhalten, oder?
Das ganze Grübeln machte mich müde und ich gab mich dem Schlaf hin. Lange hielt er jedoch nicht an, denn ich wachte alle paar Minuten auf und fühlte mich jedes Mal noch schlimmer als zuvor. Irgendwann erhob ich mich und ging auf den Balkon. Die Sonne stand bereits im Westen und schickte ihre goldenen Strahlen über das Land. Die angenehme Wärme trocknete meine Tränen und ich lehnte mich gegen die Brüstung. Ein paar Wolken zogen vorbei und tauchte den Abendhimmel in ein Farbenspiel aus rot, orange und violett. Eine zeichnete sich besonders aus, als ein winziges Stück eines Regenbogens sichtbar wurde. War das der Hoffnungsschimmer, den ich brauchte, um die Beerdigung zu überstehen und mich auf die Zukunft zu konzentrieren?
Plötzlich durchzuckte mich eine Vorfreude, die ich mir nicht erklären konnte. „Ich werde es schaffen", flüsterte ich und sah befreit in den Himmel. Erik und meine Eltern wachten über mich und ich vertraute darauf, dass sie mir zur gegebenen Zeit halfen. Es konnte doch nur noch besser werden, oder etwa nicht?
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Lyn = Blitz
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Midnight Sun - Ein Jahr zum Verlieben [Leseprobe]
RomanceFreyja Sandviks Leben ist perfekt, bis ein Unfall ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie verliert ihren Verlobten und ihre Eltern. Zurück bleibt lediglich sein Bruder und das Hotel ihrer Eltern. Neben all dem Schmerz versucht Freyja, sich dies...