Miserabel. So fühlte sich Major nach dem Erwachen. Jeden Tag hatte der Chupacabra erneut die Hoffnung, dieses schmerzhafte Gefühl der Leere nun endlich nicht mehr zu haben, doch jedesmal blieb er enttäuscht. Ablenkung war nur eine Lösung für den Moment. Das Gefühl blieb und so schnell würde es auch nicht wieder weggehen. Es bohrte sich immer tiefer ein. An manchen Tagen weniger, an manchen wiederum mehr. Ignorieren war die einzige Option, aber dies fiel Major alles andere als leicht.
Dennoch richtete sich die Kreatur auf und begann durch den Wald zu schleichen. Der Morgen war schön. Es war genau die Art von Morgen, die Major liebte, jedoch oft verschlief. Heute jedoch, hatte der Chupacabra nur schwer schlafen können, darum versuchte Major es gar nicht erst fortzusetzen. Die Luft war frisch und der Wald noch ganz ruhig. Nur hier und da ließ sich ein leises Huschen oder Rascheln wahrnehmen. Das gefiel Major. Es machte es leichter die Gedanken auf schöne, gegenwärtige Dinge zu richten und kurz die schmerzhafte, aber dennoch vermisste Vergangenheit, zu vergessen. Die Sonne stand noch tief und strahlte durch die Bäume hindurch. Sie tauchte den Wald in ein angenehmes Orange. Doch die Umgebung half dem Chupacabra nur mäßig, sich besser zu fühlen.
Major wusste, dass es dämlich war, sich so niedergeschlagen zu fühlen. Eigentlich war ja alles gut, jedoch fühlte es sich nicht so an. Das Fabelwesen schüttelte den Kopf und versuchte auf schönere Gedanken zu kommen. Einhörner waren schön. Warum konnte Major nicht einfach die ganze Zeit an Einhörner denken? Doch stattdessen machte sich jetzt eher die Frage, wie man schon so früh am Morgen den Verstand verlieren kann, im Kopf des Chupacabras breit. Naja, auch nicht schlecht.
Das Plätschern eines kleinen Baches, erregte die Aufmerksamkeit des Getiers. Major ließ sich neben den Bach nieder und trank ein wenig. Währenddessen stellte sich der Chupacabra vor, wie es wohl wäre den Kopf in das Wasser zu tauchen und nicht mehr herauszuholen, jegliche Gefühle, Gedanken sowie Erinnerungen einfach loszulassen und zu vergessen, bis nichts mehr da war. Major schüttelte erneut den Kopf. So verzweifelt war der Chupacabra nun auch wieder nicht, er würde schon irgendwie klarkommen. Hoffentlich.
Major seufzte. So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Der Chupacabra brauchte einen neuen Sinn im Leben. Nur was? Zurzeit erschien Major alles grau und langweilig. Das Fabelwesen überlegte während es einsam durch den Wald streifte, doch es wollte ihm nichts einfallen. Also beschloss es, sich zur Abwechslung mal, auf ein etwas gegenwärtigeres Thema zu fokussieren. Essen.
Das Knurren des Magens erinnerte den Chupacabra daran, dass es auch noch so etwas wie Hunger gab. Major blickte in den Himmel. Nicht weit von hier lag ein kleiner Bauernhof, es war früh genug, dass der Eigentümer wahrscheinlich noch schlief. Der Chupacabra breitete seine ledernen Flügel aus und sprang in die Luft.
Nach einem 5 minütigen Flug war der Bauernhof schon in Sichtweite. Auf einer umzäunten Wiese grasten einige Ziegen. Major landete einige Meter vom Grundstück entfernt, um sich einen kurzen Überblick zu verschaffen. Der Chupacabra hatte kaum Appetit, daher würde dieses Mal, eine Ziege vollkommen ausreichen. Das einzige was es bei der Jagd auf Bauernhoftiere zu beachten gab war, nicht vom Eigentümer erwischt zu werden. Die Vorstellung was dann alles passieren würde, ersparte sich Major.
Nun freute sich der Chupacabra doch noch auf die Jagd. Es war etwas altbekanntes, das schon immer da war, lange bevor Major überhaupt über so etwas wie Bindungen nachgedacht hatte. Außerdem war nun viel Konzentration gefragt, was ebenfalls zur ersehnten Ablenkung beitrug.
Vorsichtig schlich sich Major in Richtung des Zaunes. Es war ein einfacher, morscher Holzzaun, der schon mehr als nur mitgenommen aussah. Wind und Wetter müssen ihn über die Jahre ziemlich zugesetzt haben. Major kletterte etwas ungeschmeidig über den Zaun hinüber. Ein einfacher Sprung hätte es auch getan, aber das hätte die Ziegen wahrscheinlich zu sehr aufgeschreckt und war das Risiko daher nicht wert, wenn es auch anders ging. Auf der anderen Seite angekommen, suchte sich der Chupacabra eine Ziege aus und fixierte seinen Blick auf das Tier. Das Fabelwesen bewegte sich langsam und ruhig, um die schon bereits verängstigten Ziegen nicht noch in zusätzliche Panik zu versetzen. Das würde niemandem zugutekommen.
Endlich war es so weit. Nun war Major nahe genug an der Beute, um zum Sprung anzusetzen und die Ziege innerhalb von wenigen Sekunden zu überwältigen. Das arme Tier wusste gar nicht wie ihm geschah, es hatte keine Zeit auf den Angriff zu reagieren. Die Ziege wand sich und versuchte sich zu wehren, doch hatte im Griff der Bestie keinerlei Chance.
Major machte sich nicht erst die Umstände die Ziege vorher zu töten. Das wäre nur eine unnötige Sauerei, sowie Blutverschwendung, die sich ganz einfach vermeiden ließ. Also schlug der Chupacabra seine Fangzähne in die Kehle seines Opfers, um sich von seinem frischen Blut zu nähren. Der metallische Geschmack des Blutes löste bei Major wohlbefinden aus, ebenso die Tatsache, dass das Leben der Ziege spürbar ihrem Körper entwich und unter den Klauen des Chupacabras nachgab. Es war solch ein unbeschreibliches Gefühl. Traurig, wie auch schön. Es war genau das, was Major gerade brauchte, es ließ die Leere im Herzen des Fabelwesens weniger schwerwiegend erscheinen. Zumindest für den Moment.
Als aus der Ziege kein Tropfen Blut mehr zu bekommen war, ließ Major den Kadaver des Tieres ins Gras fallen. Die Bestie dachte kurz darüber nach, vielleicht doch noch eine zweite Ziege zu reißen, aber so angenehm das Gefühl auch war, war der Chupacabra satt und sah keinen Sinn darin weiterzumachen, da der Hunger ihn nicht mehr drängte. Also war es nun Zeit, wieder über den Zaun zu klettern und den Bauernhof zu verlassen, bevor noch jemand den heimlichen, sowie höchstwahrscheinlich auch, ungewollten Besuch, des Fabelwesens mitbekam.
Als sich Major in die Luft schwang um wieder zurück in den Wald zu fliegen, war es schon hell. Und auch wenn es ein schöner, wolkenloser und sonniger Tag war, fühlte er sich für den Chupacabra grau und erdrückend an. Major wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis diese Phase überstanden war und die Gefühle, die sie mit sich brachte, nachließen. Die Frage war nur wann. Wann würde dieser schreckliche Schmerz aufhören und Major endlich in Ruhe lassen?
