Neumond

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„Wieso malst du den Mond, obwohl er nicht da ist?"
Sie hat ihre Zwillingsschwester noch nie verstanden. Oft kommt es ihr so vor, als wäre Selena nicht von dieser Welt oder aus dieser Zeit.
„Falsch. Weil er nicht da ist, Nerina. Neumond ist die beste Zeit dafür."
Selenas Anblick wirkt wie ein Gemälde, das diese hätte selbst anfertigen können. Wie sie vor der halbfertigen Leinwand steht, unter dem Sternenhimmel und im Nachthemd. Ohne weiter darauf zu achten, geht Nerina auf sie zu. „Warum kommst du nicht mit runter zum Fest? Es ist doch dein Geburtstag. Die Gäste wundern sich, wo du bist. Wir haben alles organisiert."
„Nach der spanischen Übersetzung bedeutet dein Name die Sonnenerstrahlte."
„Na und?"
„Mein Name stammt von der griechischen Mondgöttin."
Immer noch starrt Nerina ihre Schwester nur verwirrt an. Auf ihren Armen hat sich eine Gänsehaut gebildet. Es ist spät genug, um trotz des Hochsommers kühl zu sein. Bei ihren nächsten Worten klingt Selena auf einmal unsicher.
„Ich ... ich habe ein Gedicht geschrieben. Über uns. Es ... also ... hör es dir an.

Du warst Sonne, ich war Mond,
du hast mich immer angestrahlt
hab dich umkreist, war es gewohnt,
hab mit mir selbst dafür bezahlt."
Ihre Stimme wird fester.
Nur meine dunkle Seite,
hast du nie geseh ́n
die leere, graue Weite
kannst du nicht versteh ́n."
Eine Weile schweigen sie beide. Dann nimmt Nerina die Hand ihrer Schwester, in der kein Pinsel ist.
„Ist das nicht etwas übertrieben?"
Kurz schließt Selena die Augen.
„Es gibt noch eine zweite Strophe.
Für mich, den Mond, ist es nicht gut,
die Sonne so zu lieben.
Aus meinem Herzen tropft schon Blut
ein Blutmond, bald vertrieben
von der Sonne, die nicht weiß,
dass ich sterbe, still und leis
muss mich nun von dir wenden,
sonst wird bald alles enden."
Sobald sie verstummt, schließt Nerina sie in die Arme.
„Das meinst du nicht ernst, oder? Wenn es dir nicht gut geht, sage ich die Feier ab...", flüstert sie. Über Selenas Schulter hinweg, sieht sie das angefangene Abbild des Mondes. Plötzlich reißt sie die Augen auf.
„Jetzt habe ich verstanden. Es ist Neumond. Und du willst den Mond neu malen. Er steht für dich. Du malst dich selbst neu."
„Ganz genau", langsam löst Selena die Umarmung, „und deshalb muss ich mich nun von dir trennen."
Nerinas Gesicht verfinstert sich. Dann bricht es aus ihr heraus.
„Nein." Sie nimmt einen tiefen Atemzug. „Du kannst dich nicht einfach von mir trennen. Wir sind Schwestern, das ist nicht zu ändern. Du sagst, ich kenne deine dunkle Seite nicht? Tja, jetzt schon und das wird nicht ohne Folgen bleiben. Ich bin für dich da, weil ich dich nämlich genauso liebe wie du mich. Und das ist definitiv gut."
Durch einen leichten Windstoß knallt die Balkontür wie zur Bestätigung zu. Als sie herauskam, muss Nerina vergessen haben, sie zu schließen.
„Du möchtest doch nur wieder, dass ich wie du werde. Laute Partys, immer fröhlich..."
Mit herausforderndem Blick weicht Selena zurück. Nerina schüttelt den Kopf.
„Hast du schonmal daran gedacht, dass du auch Seiten von mir nicht kennen könntest? Mir geht es nicht immer gut. Ich bin zu laut, zu wild, zu schnell... denkst du, jeder mag mich? Jemand wie ich verletzt andere viel zu leicht, ohne es zu merken."
Sie beißt sich auf die Lippen.
Dann sagt sie so schnell, dass es kaum verständlich ist: „Ich hasse mich dafür."
In der Zeit ist Selena ihr wieder nähergekommen.
„Wirklich?"
Schon spricht Nerina weiter.
„Vielleicht ... vielleicht ist es an der Zeit, dass du mir zeigst, wie es ist, mehr wie du zu sein."
Diesmal ist es Selena, die Nerina um den Hals fällt. Diese lacht leise.
„Soll ich dir ein bisschen Kuchen hochbringen?"
Auch Selena grinst nun.
„Gerne. Und ... habt ihr auch Pfefferminztee?"
„Denkst du, ich plane für dich ein Fest ohne Pfefferminztee? Bin gleich wieder da!"
Jetzt wieder beschwingt, öffnet Nerina die Balkontür und verschwindet. Währenddessen bleibt Selena nachdenklich stehen.

Kurz darauf steht Nerina vor dem reichgedeckten Buffet in der Küche, zwischen eng durcheinander wuselnden Gästen. Auf ein Tablett stellt sie die gesamte Kanne Pfefferminztee, zwei Tassen und einen Teller mit mehreren Stücken Schokotorte. Auf einmal wird sie angesprochen.
„Hey, wo bleibt denn das Geburtstagskind?"
Abweisender als sonst antwortet sie:
„Sie kommt nicht mehr, Paul. Ich bringe ihr gerade was hoch."
„Geht es ihr nicht gut?"
„Klar geht es ihr gut, sie wollte nur etwas Ruh-"
Mitten im Wort bricht sie ab.
„Scheiße", flüstert sie.
Dann dreht sie sich um.
„Bis später dann!", ruft ihr Paul noch zu.
Doch sie achtet nicht mehr darauf. Fast schon rennt sie, das Tablett vor sich her balancierend. Ihr ist ein Gedanke gekommen, der alles andere überschattet. Bruchstücke des Gedichtes rasen durch ihren Kopf.
Dass ich sterbe, still und leis ... wird bald alles enden ...Warum hat sie Selena allein gelassen? Nach so einem Gespräch! Auf einem Balkon... Nein, das würde sie nie tun.Endlich ist sie da. Sofort stellt Nerina das Tablett ab und reißt die Balkontür auf.
„Selena!"
Ihre Schwester zuckt zusammen, dreht sich um und schaut sie erschrocken an.
„Was ist los? Ist etwas passiert?"
„Kurz dachte ich ... du ...du lebst ..."
Selena legt den Kopf schief.
„Natürlich lebe ich", sagt sie sanft.
Schnaufend lacht Nerina. Eine Weile sagt sie nichts. Sie lebt. Dann tritt Selena zur Seite. Und Nerina sieht das Bild.
„Du hast es beendet..."
Kurz zögert Selena.
„Gefällt es dir? Ich wollte ... naja, Sonne und Mond, wie Yin und Yang, zusammengehörend, aber niemand muss sein, wie der andere."
Unter dem Blick ihrer Schwester geht Nerina hinein und kommt kurz darauf mit dem Tablett zurück. Sie setzt sich auf den Boden. Dann füllt sie die Tassen mit Pfefferminztee.
„Es ist wunderschön."
Die Augen auf das Bild gerichtet, trinkt sie einen Schluck.
„Was ist nun? Setzt du dich zu mir?"


Diese Kurzgeschichte war Teil des Luna-Awards von   . Dabei hat sie den Leserliebling gewonnen. (oben sind der Sticker und der Header zum Wettbewerb im Bild)
Es gab jedoch noch eine weitere Kurzgeschichte, die diesen Preis abstauben konnte. Diese findet sich auf dem Profil von im Buch "Gefangen in Gedanken - Kurzgeschichten" unter dem Titel "Ka mahina". Ich empfehle jedem, dort auch einmal vorbeizuschauen!

Zwar kommt die Kurzgeschichte hier etwas (ganz schön...) verspätet, aber ich hoffe, das ist in Ordnung. Im Award direkt kann man sie ja auch lesen.

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