An dich, Ozean

142 4 2
                                    

Brief 1: Wellen und Worte
Vermutlich stellt Mutter sich vor, wir würden ihr Geschenk zu einer Art Tagebuch machen. Sie hat uns erklärt, weshalb wir es nutzen sollten. Nicht zwingend für tägliche Einträge, aber um die wichtigsten Ereignisse unseres Lebens festzuhalten. Ihrer Meinung nach werden wir eines Tages merken, welch wichtige Freundin wir in diesem Buch finden.
Mir fällt selbst auf, wie ungewohnt es sich anfühlt, in die Leere zu schreiben. Und dennoch: vielleicht stimmt das ja gar nicht. Während ich hier am Strand sitze, den Wellen lauschend, kommt es mir fast so vor, als würde der Ozean jedes meiner Worte aufnehmen. Als wären sie an ihn gerichtet.
Lieber Ozean, Mutter schenkt jeder von uns Nereiden ein solches Buch zum neunzehnten Geburtstag. Weshalb kommt es mir dennoch so persönlich vor? Ist es, weil ich die meiste Zeit meiner Jugend gar nicht bei ihr, sondern bei Hera aufgewachsen bin? Weil ich zwar zu ihren fünfzig Töchtern gehöre, mir aber nie sicher war, wie wichtig ich ihr bin? Für mich ist dieses Buch ein Symbol. Ein Symbol für meine Herkunft, meine Familie. Ich gehöre dazu.

Brief 2: Wieso ich?
Die Schönste der Nereiden, so nennen sie mich jetzt. Dabei bin ich nur eine unter ihnen, nicht auffällig, versucht, im Hintergrund zu bleiben und doch immer glücklich ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Bis gestern. Es war die Geburtstagsfeier meiner Schwester Pherusa. Ich weiß nicht, ob sie ihn eingeladen hat, oder ob er grundsätzlich nicht glaubte, Einladungen zu benötigen. Obwohl wir offiziell als seine Begleiterinnen gelten, besucht er nur selten unsere Höhlen. Sie sind unser Rückzugsort, unser Zuhause tief im Ozean. Ja, inzwischen auch mein Zuhause. Jedenfalls sorgte seine Anwesenheit von Beginn an für eine ungewöhnliche Stimmung. Getuschel zwischen einzelnen Gruppen. Nereiden, welche ihm bewusst aus dem Weg gingen und solche, die seine Nähe suchten. Ich schenkte dem Ganzen möglichst wenig Aufmerksamkeit. Pherusa wurde gefeiert, nicht der Gott der Meere. Poseidon hatte kein Recht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Also tanzte ich, lachte ich, vergaß ihn tatsächlich. Das war ein Fehler.
Es war schon spät, als ich mich entschloss, die Feier für eine Weile zu verlassen. Ich wollte schreiben, an dich, Ozean. Weil ich das Verlangen spürte, diesen wundervollen Moment festzuhalten. Also schwamm ich nach oben. Je weiter ich mich entfernte, desto leiser wurde die Musik. Dann, als ich schließlich die Wasseroberfläche durchbrach, umgab mich völlige Stille. Die klare Nacht traf mich unvorbereitet, es war dieses sentimentale Gefühl im Bauch, wie plötzliche Gegensätze es leicht heraufbeschwören können. Der Ort war so anders als der, an dem ich mich kurz zuvor noch befand. Sterne spiegelten sich im klaren Wasser. Alles in mir kam zur Ruhe, als wäre ich ein Teil der unberührten See. Dann tauchte er auf. Poseidon erschien in seiner körperlichen Gestalt. Ich wusste, zu welch riesigem Wasserwesen er anwachsen konnte. Nun stand er als einfacher Mann vor mir. Groß trotzdem, ja. Mit Goldkrone, okay. Etwas zu nackt und zu muskulös, na gut. Aber eben irgendwie menschlich. Er sah mich direkt an.
„Hallo?" Mein Versuch etwas zu sagen, war nicht als Frage gedacht, klang aber so. Er lächelte.
„Thetis, ich bin froh dich hier zu treffen. Ehrlich gesagt bin ich heute nur gekommen, um mit dir zu reden."
„Ach ja?"
Sein Lächeln wurde breiter, obwohl seine nächsten Worte keinen Bezug auf das vorher Gesagte zu haben schienen.
„Du liebst das Meer, oder?"
Ich nickte nur. Mein Blick wanderte von ihm zu dir, Ozean. Zwischen euch muss eine Verbindung bestehen, dass weiß ich, aber ich verstehe sie nicht. Um ehrlich zu sein macht Poseidon mir Angst; schon immer verbinde ich mit ihm Stürme, Unwetter, Zerstörung, während du der Frieden bist.
Offensichtlich sah Poseidon das ganz anders.
„Weißt du, wir sollten uns öfter treffen, in letzter Zeit habe ich häufig über dich nachgedacht..."  
Es tut mir leid. Ich weiß nicht mehr, was er dann sagte, mein Gehirn setzte aus, hat aufgehört die Informationen zu verarbeiten. Poseidon wollte ... was eigentlich? Zeit mit mir verbringen? Das klingt unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich, dass ich es nicht glauben kann. Oder ist das ein Vorurteil? Jedenfalls antwortete ich ihm nicht. Ich stand da, unfähig, mich zu bewegen. Die Zeit im Stillstand. Für Sekunden, Minuten, ich hoffe nicht länger. Bestimmt nicht, sonst wäre er nicht einfach gegangen, hätte gedacht mit mir stimmt etwas nicht. Die letzten Worte, die ich mitbekam, waren so etwas wie: „...denk darüber nach."
Poseidon verschwand. Schneller, als ich in irgendeiner Weise doch noch hätte reagieren können, verschmolz er mit dem Wasser. Ich drehte mich langsam um, in Richtung Strand. Etwas später lief ich die Dünen entlang. Erst langsam begann ich innerlich wieder aufzutauen. Über das Geschehene konnte ich jedoch nicht nachdenken. Stattdessen landete mein Blick auf dir, deiner Ruhe und dem davon ausgehenden Versprechen nach Sicherheit. Nichts würde sich ändern. Ohne Meeresgott.
„Ich weiß, was er dir angeboten hat."
Die Stimme umgab mich so unvermittelt, dass ich zusammenzuckte. Sie war wortwörtlich überall. Ein Flimmern erschien in der Luft, als würde der Wind sich manifestieren, einen Körper bilden. Für einen Moment dachte ich, Poseidon sei zurückgekehrt. Der Mann vor mir sprach:
„Du solltest das Angebot meines Bruders ablehnen. Verbring lieber Zeit mit mir."
Eventuell habe ich auch ihm nicht zu gehört. Bin ganz vielleicht nicht einmal geblieben, sondern gerannt. Immer weiter, ohne zu denken oder die Welt um mich zu bemerken. Ins Meer hinein, tiefer und tiefer, zurück zu den Höhlen. Das Fest war bereits vorbei.
Im Nachhinein kommt es mir wie ein Wunder vor, dass Zeus mich nicht aufgehalten hat. War er dank meiner Flucht zu perplex? Oder war ihm das Ganze einfach nicht wichtig genug? Letzteres klingt beruhigend. Ich weiß nicht wie, aber bereits heute hat sich herumgesprochen, was gestern geschehen ist. Die meisten beneiden mich. Umworben von zwei der mächtigsten Götter, inklusive Göttervater, so sehen sie es. Hoffentlich liegen sie falsch. Vielleicht haben ja beide Götter einfach nur zu viel Ambrosia getrunken. Und selbst wenn nicht – was sollte das schon groß ändern? Mein Leben gehört dem Meer, niemandem sonst. Bei dir bleibe ich.

Short StorysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt