Unbeschrieben

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Nur meine engste Familie, hatte ich gesagt. Doch natürlich musste Jorin dagegen verstoßen und nun sehe ich das gesamte Dorf auf der Wiese. Kinder wuseln um die Beine der Älteren herum. Selbst ihnen wurden die traditionellen Kleider in den Flügelfarben der Eltern übergestülpt. Dann sind da noch junge Feen aus meiner Schule, viele bereits mit eigenen Flügeln, flatternd, im Sonnenlicht schimmernd.

Mama weicht einem Löwenzahn aus, als sie quer über die Wiese auf mich zukommt. Ich ahne zu wissen, weshalb sie nicht fliegt. Die Rücksicht auf mich sorgt allerdings für eine gegenteilige Wirkung, sie erinnert mich einmal mehr an die bevorstehende Zeremonie. Gleich wird Mama mich beiseite nehmen, um vorher ein letztes Gespräch zu führen. Ausgerechnet Mama, die ihre dunklen, sternenfunkelnden Flügel mit neun Jahren erhalten hat, noch vor all ihren Freunden. Sicher wird sie mir helfen können. Wer auch sonst.
„Mira", sagt sie, „Kommst du kurz mit?"

Ich folge ihr, wenn auch ein bisschen langsam. Wir verlassen die Wiese und setzen uns auf einen Baumstamm im angrenzenden Wald. Immer noch dringen die Stimmen der Anderen zu uns, allerdings nur gedämpft und wir verstehen sie kaum. Die Bäume strahlen eine angenehme Kühle aus. Mama kommt direkt zum Punkt.

„Fühlst du dich wirklich bereit?"
Die Bedeutsamkeit der Frage erschüttert mich. Nein, wirklich, für uns ist die Zeremonie an keine bestimmte Zeit gebunden. Bis auf die eigene innere Uhr. Man muss keine Prüfung ablegen, das Ritual selbst ist die Prüfung. Davor ist man Schüler, mit dem Recht auf Lehrer und Unterricht. Sie zeigen einem, wie man den richtigen Moment spürt. Nur ist das leider eine sehr subjektive Sache. Manchen liegt sie mehr, anderen weniger.

„Natürlich", antworte ich, weiß aber im selben Moment, dass Mama mir nicht glaubt. Ich sehe es an ihrem Blick, als sie sagt:
„Vor meiner Zeremonie damals habe ich mich so bereit gefühlt, wie nur möglich."
Was sonst hätte ich erwarten sollen? Schließlich bin ich die Spätzünderin von uns, Mama war immer perfekt. Sofort tut mir der Gedanke leid. Sie fährt fort.
„Aber ich war zu dem Zeitpunkt auch jung. Je jünger wir sind, desto leichter meinen wir, uns auf dem richtigen Weg zu befinden. Ich glaube eben, nur deshalb erhalten die meisten ihre Flügel schon vor dem fünfzehnten Lebensjahr. Du bist älter und du hast schon immer viel nachgedacht. Kein Wunder, wenn du dich noch nicht bereit fühlst."

Ich umklammere mit einer Hand die Rinde des Baumstamms.
„Du glaubst also, es ist zu spät für mich?"
„Nein. Ich glaube nur, du zweifelst stärker. Noch können wir die Zeremonie absagen. Wenn du dir nicht sicher bist, ist es zu gefährlich."

Wenn ich mir nicht sicher bin. Wie soll man sich bei so etwas denn sicher sein? Eine Fee erhält bei der Zeremonie ihre Flügel. Dazu gehen wir die Verbindung mit einem Schmetterling ein. Es bedeutet uns viel mehr, als nur die äußere Erscheinung oder die Fähigkeit zu fliegen. Die Flügel mit ihrer Ausstrahlung und ihren Farben stehen für eine Lebensphilosophie. Jedes Lebewesen ist verpflichtet, eine neue Facette der Welt zu ergründen, um dieses Wissen dann der nächsten Generation mitzugeben. Mit der Wahl unserer Flügel legen wir fest, welche Facette das ist.
„Ich sage die Zeremonie nicht ab. Sicher werde ich mir nie sein und wenn ich darauf warte, sterbe ich ohne Flügel. Lieber nehme ich die Gefahr in Kauf, dass die Zeremonie scheitert."


Es dauert eine Ewigkeit, bis die Zeremonie beginnt. Eine Ewigkeit, in der die Zeit sich abwechselnd zu beschleunigen und zu verlangsamen scheint und dies in möglichst nervenaufreibendem Wechsel. Endlich stehe ich im Zentrum der Wiese. Zwar spüre ich die Blicke auf mir, kann aber nur die Umrisse der Dorfbewohner erkennen. Ein Schleier verdeckt meine Augen, dunkel, mit aufgestickten Sternen. Mamas Flügelfarben. Sie brennen sich mir ein, lachen mich aus. Auf der Wiese ist es ruhig.

„Jetzt", sage ich und erkläre mich damit für bereit. Die Zuschauer teilen sich, damit Mama auf mich zukommen kann. Dieses Mal fliegt sie, bis sie direkt vor mir landet. Sie wartet einen Moment zu lang. Ein verräterisches Zögern. Dann legt sie mir vorsichtig den Schleier ab.
„Ich nehme meine Farben von dir, denn heute wirst du deinen eigenen Weg antreten."
Das Tageslicht strömt ungefiltert auf mich ein, sodass ich blinzeln muss. Mama hat mir bereits den Rücken zugekehrt, als ich wieder klar sehe. Sie verschwindet zwischen den Anderen. Jetzt ist es zu spät, um abzubrechen, möchte ich ihr hinterherrufen. Der Gedanke hallt in mir wider. Es ist zu spät.

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