05. November 1996

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Etwas zu verdrängen ist die einfachste Lösung, doch auf Dauer tötet es die Seele.

05. November 1996

Autsch!

Mein Fuß stößt gegen etwas an meinem Bettrand und es fällt mit einem lauten Krach zu Boden. Ich ignoriere es versonnen und kuschele mich wieder verschlafen in meine Kissen. Meine ersehnte Ruhe bekomme ich allerdings nicht. Stattdessen werde ich von irgendeinem festen Objekt abgeworfen.

Mit einem Mal bin ich hellwach und in Alarmbereitschaft. Mithilfe einer fließenden Bewegung bin ich auf den Beinen, drehe mein Handgelenk und zücke defensiv meinen Zauberstab, der mir vom Nachttischchen entgegengeflogen ist. Ich schaue mich um, bereit, um auf meinen Gegner zu zielen. Da nehme ich eine Bewegung wahr und...

„Geschenke!", schreit eine Stimme.

Hä?

„Protego Totalum", zaubere ich, noch sehr harmlos für meine grausamen Gewohnheiten. Ein Schutzschild wehrt den nächsten Gegenstand ab, der auf mich zugeschossen kommt.

„Wer da?", frage ich scharf, mit einem (nicht ganz so freundlichen) dunklen Fluch auf der Zunge.

„Grey, ich bin's doch. Lisa!", sagt das Mädchen erschrocken, das seit Wochen schon hinter mir herläuft und so tut, als wäre sie meine beste Freundin. „Hast du deinen eigenen Geburtstag vergessen?"

„Hä, was?"

Ich habe doch im Juli Geburtstag, nicht im November. Moment mal! Grey hat im November Geburtstag. Wie habe ich meinen eigenen Geburtstag vergessen?

Sobald sich Lisa von ihrem Schrecken erholt hat, beginnt sie, sich vor Lachen zu krümmen. „Ich glaube du hast schlecht geträumt, du paranoider Hohlkopf!", kichert sie und hält sich den vor Lachkrämpfen bebenden Bauch.

Dann ist sie tatsächlich unverschämt genug, um mich erneut abzuwerfen. Auf einen Wink meines Zauberstabes hin fliegt der in rotes und goldenes Geschenkpapier eingewickelte Gegenstand in meine ausgestreckte Hand.

Geschenke, ja tatsächlich!, denke ich beinahe erstaunt, während ich den Gegenstand in meiner Hand hin und her drehe und ihn betrachte. Ich denke an meine spontane Reaktion und seufze. Langsam werde ich wirklich paranoid. Das darf auf keinen Fall so weitergehen. Entweder ich beherrsche mich demnächst besser, oder ich lehre meinen Mitmenschen die Furcht, sodass so eine Situation gar nicht erst zustande kommt.

„Du hast alle deine Geschenke im Schlaf vom Bett gestoßen", erklärt mir Lisa aufgedreht. "Das, was du da hast, ist übrigens von mir!"

Ich murre etwas vor mir her, dann setze ich mich doch wieder hin und reiße das alberne Geschenkpapier brutal auf. Natürlich ist alles bloß lächerlicher Kinderkram. Von Lisa bekomme ich Schuhe, die mit schriller Partymusik einige Zentimeter vom Boden abheben und von meinen Eltern Muggelbücher, die ich noch halbwegs als anständig akzeptieren würde, wären sie nicht von dummen Muggel geschrieben worden. Dann noch einen viel zu gesprächigen Wecker von Perseus und jede Menge Süßigkeiten, wegen denen ich mir dann doch ein klitzekleines bisschen sinnloser Freude erlaube.

Trotz meines kleinen Häuserproblems scheine ich dann doch ziemlich beliebt geworden zu sein, denn ich bekomme Geschenke von Menschen, deren Namen ich nie gehört habe, geschweige denn mir nicht die Mühe gemacht habe, zu merken. Hier in Hogwarts scheinen mich viele, wahrscheinlich aufgrund meiner fortgeschrittenen Kampfkünste, als eine Art Wonder Woman anzusehen. Möglicherweise habe ich doch noch mehr von Victoria Collins in mir, als ich mir zu hoffen erlaubt habe.

Zu guter Letzt ist nur noch ein kleines Päckchen übrig. Es ist in dunkelgrüne Seide gewickelt. Meine Lieblingsfarbe! Als ich es aufmache, kullert ein winziges Objekt auf meine offene Handfläche.

Gellerts VictoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt