16. Februar 1943 (Teil 1)

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Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. -Bertolt Brecht

16. Februar 1943

In der aufziehenden Dämmerung sehen die altbekannten Straßen New Yorks verlassen und fremd aus. Das geschäftige Quietschen der Autoreifen auf dem noch feuchten Beton wird von den hohen Mauern der Hochhäuser gedämpft und selbst die hellen Lichter der Straßenlaternen dringen kaum bis in die enge Gasse durch. So umhüllt uns die aufkommende Finsternis wie ein schützender Mantel, der sogar das gleichmäßige Knirschen der schweren Lederstiefeln auf dem unebenmäßigen Schotter in meinen Ohren laut erscheinen lässt.

Als der Durchgang sich weiter verengt, sticht mir der beißende Gestank von Urin und faulen Eiern in die Nase. Das Knirschen der Schritte verwandelt sich in ein ekliges Schmatzen, als die teuren Schuhe in das abgestandene Wasser vom letzten Regen treten.

Wie ein Schatten wellt sich der schwarze Umhang vor mir bei jeder Bewegung der ledernen Stiefel und schafft dabei ein Bild von vollkommener Eleganz und Würde. Die Arme des Mannes baumeln locker zu beiden Seiten seiner schlanken Gestalt hinab und die aufgestellten weiß-blonden Haare vollenden die vollkommene Erscheinung meines Vorgesetzten. Man könnte fast meinen, er wäre auf einem nächtlichen Spaziergang. Nur ein genauer Betrachter würde die Spitze eines Zauberstabes in seinem rechten Ärmel erkennen, der die Natur unserer Mission erahnen ließe.

Als sich die eng stehende Reihe der Hochhäuser öffnet und den Blick auf das belebte Treiben des New Yorker Theaterviertel freigibt, hält Gellert Grindelwald in seinem Gang inne. Ich merke kaum, wie ein Schwall aufgeregter Stimmen, dicht gefolgt von dem Lärm ungeduldig hupender Autos zu uns durchdringt. Reglos starre ich die mit Tierornamenten geschmückte Fassade eines prachtvollen Gebäudes hinauf. Der Woolworth Wolkenkratzer erstreckt sich weit in den Himmel und wird von einem grün-weiß beleuchteten Pyramidendach gekrönt.

„Du machst dir Sorgen, Victoria."

Ein leichter Schauer erfasst mich, als ich die Vibration von Gellerts dunkler Stimme dicht an meinem Ohr spüre. Bei der unerwarteten Nähe kann ich dem Drang, mich gegen seinen starken Körper zu lehnen, kaum widerstehen.

„Ich war lange nicht mehr hier", erwidere ich sachte und drehe mich zu ihm, um in seine verschiedenfarbigen Augen zu blicken. Während sein linkes Auge fast schwarz aussieht, fällt das Rechte mit der unnatürlichen Blässe deutlich auf. Manchem anderen hätte die Unregelmäßigkeit den Look versaut, doch in Gellerts vollkommenem Gesicht wirkt sie auf respekteinflößende Weise anziehend. „Aber ich bin bereit."

„Gut", sagt er, doch das leichte Lächeln, das seine Lippen umspielt, reicht nicht bis zu seinen Augen. „Ich weiß deine Qualitäten als Kämpferin zu schätzen, aber diesmal ist Diskretion geboten. Wir können uns keine Wiederholung des Vorfalls in Portugal leisten."

„Ich weiß", erwidere ich mit heftig klopfendem Herz. „Wir gehen rein, erpressen die Präsidentin, dann wieder raus. Ohne Zwischenfälle."

„Mit ihr reden, sie überzeugen - wir sagen niemals erpressen", korrigiert er mich. Sein Blick bohrt sich mit solcher Intensität in den meinen, dass meine Beine drohen, unter meinem Gewicht nachzugeben. Wie kann er nur vor einer solch wichtigen Mission so ruhig bleiben?

Ich nicke schwach. Gellert macht einen Schritt auf mich zu und stützt seine Hände rechts und links von mir an der Hauswand ab. Kurz setzt mein Herzschlag aus, nur um direkt wieder auf Turbo zu starten. Auf meinen Lippen prickelt es leicht und ich kann nicht anders, als die seinen zu betrachten, wie sie unter seinem kleinen Schnurrbart perfekt zur Geltung kommen. Ich atme tief durch, doch statt meine Gefühle zu beruhigen, steigt mir nun sein herber, maskuliner Duft in meine Nase. Es ist hoffnungslos.

„Ganz ohne Zwischenfälle wird es nicht verlaufen", erklärt Gellert dunkel. „Im Erdgeschoss werden wir von Auroren angegriffen. Falls wir sie unauffällig ausschalten können, sollten sie kein Hindernis darstellen."

Ich nicke. „Gegen Auroren komme ich an."

„Victoria", knurrt er und ich blicke wie ein geschlagener Hund zu Boden. „Erinnerst du dich an die Vision, von der ich dir erzählt habe? Das schlechte Omen eines faulen Eies hat sich heute Nacht wiederholt. Ich erwarte deine Vorsicht und vollkommenen Gehorsam." Sein Tonfall erlaubt keine Widerrede.

„Ja, Gellert", beeile ich mich zu sagen.

Mit einem knappen Nicken nimmt er seine Hand von der Wand und wendet sich von mir ab. Sein langer Umhang schlottert kurz um meine Knie, bis er mit einem seiner gemäßigten Schritte den Abstand zwischen uns vergrößert. Das wilde Klopfen meines Herzens verebbt und hinterlässt ein schmerzhaftes Ziehen.

„Gellert", hauche ich und er bleibt stehen. Seine Augen fixieren wieder die meinen mit dieser einschüchternden und doch so fesselnden Kraft, die meine Beine jedes Mal in Wackelpudding verwandelt.

„Ja, Victoria?", fragt er und eine seiner Augenbrauen hebt sich leicht nach oben, als wolle sie Ungeduld und Frage mit einer einzigen Regung formulieren.

Ich atme tief durch. „Falls heute nicht alles nach Plan laufen sollte", murmle ich und meine Stimme zittert leicht, „will ich bloß einmal gesagt haben, dass ich... dich liebe... Gellert."

In dem Moment dringt das laute Bellen eines Hundes zu uns hindurch und lässt mich zusammenfahren. Ich weiß, dass Gellert meine Worte nicht erwidern wird. Mit ihm ist das Leben ein stetiges Spiel zwischen Schmerz und Vertrauen, Unsicherheit und dem permanenten Druck, sich zu beweisen.

„Folge mir", befiehlt Gellert und entlockt mir ein Lächeln. Habe ich je etwas lieber getan?

Seine dunkle Form hebt sich wie eine Oase der Ruhe von den hell beleuchteten Gebäuden ab, als wir auf die belebte Straße treten. Schweigend gehen wir an Verkäufern vorbei, die laut ihre Produkte preisen. Mit wenig Hoffnung wenden sie sich an die letzten Fußgänger, die nach einem langen Arbeitstag nur noch in die warme Stube wollen. Ich straffe meine Schultern und blicke starr auf den weißen Wolkenkratzer, auf den wir uns zubewegen. Heute werde ich Gellert zeigen, dass ich mehr bin als eine hirnlose Killermaschine.

„Frischer Fisch! Frischer Fisch!", schreit ein gebeugter, alter Herr. Auf der anderen Straßenseite krümmt er sich über ein klappriges Tischlein, um mit enthusiastischer Verzweiflung zu uns herüberzuwinken. „Schlussverkauf für nur sieben Dollar das Kilo! Nur sieben Dollar!"

Wir würdigen den Verkäufer keines Blickes, als wir mit schnellen Schritten an der großen Drehtür des üppigen Gebäudes vorbeigehen, um dieses zu umrunden. Von nahem kann ich die bemalten Terrakottatafeln und schwebenden Stützpfeiler der Granitfassade erkennen, welche längst vergessene Erinnerungen in mir wecken. Fast schon spüre ich die Panik meines jüngeren Selbst, das mit der Hast einer verspäteten Person durch eben diese Straße zur Arbeit eilte.

Gellert und ich bleiben vor dem sorgfältig in die Wand eingelassenen Seiteneingang stehen, der in den magischen Teil des Gebäudes führt. Würde ich den geheimen Eingang zum Regierungszentrum Amerikas nicht fast so gut kennen wie Gellerts Festung Nurmengard, wäre ich unwissend daran vorbeigelaufen.

„Bleib hinter mir und zaubere nur, wenn ich es dir erlaube", flüstert Gellert und legt seinen Zauberstab auf eine kleine Einkerbung in der Granitwand.

„Warte", murmle ich gepresst, „wäre es nicht besser, uns zu tarnen?"

„In meiner Vision haben wir unsere wahren Gesichter gezeigt", lautet die einzige Antwort.

Gellerts VictoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt