BLAIR, Montag 19. Oktober

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Dahlia ging am Montag nicht zur Schule. Blair war ihr ein wenig beleidigt, weil sie ihr nicht erzählt hatte, was nach ihrem Abgang von der Party passiert war, aber sie hatte auch ein wenig Verständnis dafür. Der Abend schien für Dahlia nicht gut verlaufen zu sein, außerdem war Blair nur ihre Gastschülerin, nicht ihre beste Freundin. Das war Rabea, und genau mit der wollte Blair sprechen. Sie war nicht mit dem üblichen Bus zur Schule gefahren, also wartete Blair im Oberstufenzimmer auf sie. Sie saß auf einem der roten Sofas direkt gegenüber von Hannes, der sie Samstagabend auf Elenas Party eiskalt hatte abblitzen lassen. Neben ihm saß sein bester Freund Kenny, die beiden waren ungewöhnlich still. Normalerweise unterhielten sie das ganze Zimmer mit ihren unglaublich schlechten Witzen und fragwürdigen Gesprächen, aber heute saßen sie nur schweigend nebeneinander und starrten geradeaus. Es war so leise, dass man im Gemeinschaftsraum sogar ungestört lernen konnte. Blair musste herausfinden, was noch auf der Party passiert war, aber Rabea kam einfach nicht. Die meisten Partygäste waren von anderen Schulen gekommen, bis auf Rabea gab es nur noch Kilian, an den sie sich wenden konnte und wollte. Der stand vor dem Unterricht meistens mit ein paar anderen Zwölftklässlern am Schulhof und Blair mochte ihn eigentlich gerne. Auch heute stand er an seinem üblichen Platz, seine Freunde nickten Blair zu, als sie über den Schulhof kam. Sie lächelte zurück, auch wenn ihr Exfreund Victor unter ihnen war.

»Kann ich dich kurz etwas fragen?«, fragte sie Kilian und einer seiner Freunde stieß ihm grinsend in die Seite. Kilian ging bereitwillig ein paar Schritte von der Gruppe weg, damit er ungestört mit Blair reden konnte.

»Weißt du, ob etwas besonderes passiert ist, nachdem ich die Party verlassen habe?« Kilian schüttelte den Kopf.

»Nee, ich bin kurz nach dir gegangen, wieso?«

»Ich glaube, es ist etwas passiert. Dahlia wollte gestern nicht mit mir reden und ist heute nicht in der Schule. Hannes und Kenny sitzen im Oberstufenzimmer und reden nicht miteinander.« Kilian zuckte die Schultern, dann grinste er.

»So ein Kater kann sich über Tage ziehen.« Blair lachte, auch wenn sie ihm nicht ganz glaubte. Sie warf einen Blick auf die große Uhr überm Schultor.

»Der Unterricht beginnt gleich.« In der nächsten Sekunde gongte es. Blair und Kilian hatten verschiedene Kurse und verabschiedeten sich auf der Treppe. Blair schaffte es gerade noch vor ihrem Lehrer in die Klasse und entschuldigte sich mit einem zuckersüßen Lächeln für ihre Verspätung. Rabea saß an ihrem gewohnten Platz am Fenster. Blair setzte sich neben sie, zwischen ihnen saß normalerweise Dahlia. Rabea ignorierte Blair komplett, sodass sie sich nicht traute, sie im Unterricht anzusprechen. Sie beschloss, mit ihr in der Pause zu reden, aber natürlich musste ihr jemand einen Strich durch die Rechnung machen. Zehn Minuten vor Pausenbeginn klopfte es an der Tür, es war ein Polizist.

»Wir müssen mit zwei von euch reden. Rabea Neumayer und Kenny Merrick, kommt bitte mit nach draußen.« Kenny saß in der Reihe vor Blair und zuckte bei der Nennung seines Namens zusammen. Er sah sich erschrocken um, folgte aber schließlich der Anweisung des Polizisten. Anfangs war Blair enttäuscht bis ihr klar wurde, was das zu bedeuten hatte: es würde sich herumsprechen, was auf der Party passiert war. Nach der Stunde redeten alle durcheinander, aber niemand wusste, was wirklich los war. Hannes und Kilian waren anscheinend auch von der Polizei herausgerufen worden, also bis auf Blair somit alle, die auf der Party gewesen waren. Das fiel auch einigen anderen auf.

»Hey Blair, wieso bist du nicht beim Verhör?«

»Hey Blair, was ist am Samstag passiert?«

»Hey Blair...«

Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Und sie hatte wieder keine Chance, mit Rabea zu reden. Vielleicht würde man sie ja später zum reden zwingen? Die Befragten kamen nacheinander wieder. Zuerst waren Hannes und Kenny kurz vor Stundenbeginn zurück. Die beiden ließen sich nicht anquatschen, Hannes redete leise auf Kenny ein, der ziemlich aufgebracht wirkte. Blair würde gerne mit den beiden reden, aber jetzt hielt sie das für einen schlechten Zeitpunkt. Rabea kam in der dritten Stunde zurück, Kilian sah sie den gesamten Vormittag nicht mehr. Während des Stundenwechsels ergab sich endlich die Chance und Blair fing Rabea auf dem Weg zum Kunstsaal ab.

»Was ist mit Dahlia los?«, fragte sie direkt heraus.

»Kannst du sie das nicht selbst fragen?«

»Nein, eben nicht. Sie redet nicht mehr mit mir.« Rabea schaute sie skeptisch an. Blair hatte immer das Gefühl, Rabea wäre neidisch auf sie, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum. Sie hatte keinen Grund dazu, vielleicht war Blair selbst auch zu eingebildet und kam nur deswegen auf solche Gedanken.

»Dann frag sie doch einfach mal.« Rabea wollte weiter gehen, aber Blair hielt sie auf.

»Wieso sagt mir nie jemand etwas? Ich war auch auf der Party, das ist unfair!« Rabea zog sie gewaltsam zur Seite, damit keiner sie hören konnte.

»Das bleibt aber unter uns.« Sie schaute sich hektisch um.

»Sie ist vergewaltigt worden, okay?«, zischte sie Blair leise ins Ohr und rannte im nächsten Moment vor ihr weg. Blair ging perplex weiter, die Gedanken schwirrten ihr unsortiert durch den Kopf. Sie dachte an Dahlias passive Art, mit der sie sie seit der Party behandelt hatte und plötzlich machte es Sinn. Sie bekam die nächste Schulstunde kaum mit. Sie fürchtete sich ein wenig vor der Rückkehr nach Hause, sie wusste nicht, wie sie Dahlia begegnen sollte. Sie hätte nie gedacht, dass so etwas jemandem in ihrem Umfeld passierten könnte, bis jetzt hatte sie immer Glück gehabt. Die letzten Stunden vergingen ihr ein wenig zu schnell, wenn kein Lehrer in der Nähe war sah sie, wie jeder Rabea anquatschte. Dieser war das sichtlich unangenehm und nachdem es zum Schulschluss gegongt hatte, ergriff Blair die Chance, sich wieder ein paar Pluspunkte bei ihr zu holen.

»Komm, wir gehen schnell zum Bus.« Sie nahm Rabea beiseite und gemeinsam liefen sie zur Haltestelle, bevor sich ihnen jemand nähern konnte. Blair hatte nicht vor, sie noch weiter auszufragen, obwohl sie natürlich neugierig war wie jeder andere. Die beiden sprachen während der Fahrt nicht miteinander, erst als sie sich vor ihren Häusern trennten, verabschiedete sich Rabea.

»Pass auf Dahlia auf.«, bat sie Blair.

»Ich werde mein bestes geben.« Nur leider konnte sie Dahlia nicht beschützen, sie musste auf sich selbst aufpassen.

Red Dahlia (2016)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt