Blaue Flecken

5 1 0
                                    

Angst machte sich in mir breit. Mein Instinkt riet mir, so fest zu treten, wie ich konnte, doch das hätte wenig gebracht. Mein Gehirn brüllte mich an, bei der nächsten Gelegenheit sofort zu fliehen. Aber das war wirklich schwierig, wenn Amber einen gerade umklammert hielt. Meine Chancen waren gleich null, ich konnte mich schon mal auf einen Besuch im Krankenzimmer einstellen. Das war noch die beste Lösung. Und ich wusste nicht einmal, wo das Krankenzimmer lag. Wahrscheinlich direkt neben dem Lehrerzimmer, damit direkt eine Lehrkraft den Schüler inspizieren und in die Mangel nehmen konnte.

Ich hatte erwartet, dass Tina es persönlich tat. Doch natürlich konnte sie es nicht riskieren, dass einer ihrer Nägel abbracht und sie einen neuen Termin mit ihrem Stammnagelstudio vereinbaren musste. Oder so.
Jedenfalls ließ sie es ein hart und abgekocht aussehendes Mädchen machen. Und - meine Güte - die hatte echt riesige Hände. Todesfallen, dem Teufel der Hölle persönlich untertan.

Mit einem Lächeln trat sie vor. Es war ein gruseliges Lächeln, dass mir direkt einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie sah definitiv so aus, als wäre sie schon öfter in den Boxring getreten. Und hätte gewonnen.

Ein glückliches Schnaufen entwich dem Mädchen, und - Himmel! - dabei blähten sich ihre Nasenflügel auf, wie die eines Stiers.

,,Dir wird es noch leidtun, dass du meinen - ich wiederhole, meinen Freund angebaggert hast, Quinn. Sehr, sehr leidtun!", stellte Tina klar. Sie öffnete ihre Faust und machte mit der Hand eine Bewegung, die aussah, als würde sie gleich ihre Fingernägel wie Krallen aus mich herabsausen lassen.
Doch dann überlegte sie es sich anders und warf mir einen abschätzigen Blick zu, als wolle sie sagen: Für dich bin ich mir zu schade. Außerdem will ich dein ekliges Blut nicht unter meinen Fingernägeln haben.

Sie trat einen Schritt zurück und das brutal aussehende Mädchen schob sich vor sie, bereit für den ersten, schmerzhaften Schlag ins Gesicht. Wahlweise auch in den Bauch, oder an meinen Hals. Das waren die empfindlichsten Stellen bei mir. Doch das konnte sie nicht wissen, und deshalb würde sie ihren ersten Schlag wahrscheinlich präzise genau in meiner Nase versenken.

,,Ach ja." Tina drehte sich noch einmal um. ,,Das ist Tatiana. Du wirst jetzt viel Spaß mit ihr haben. Erwarte mich bloß nicht in den nächsten - und nebenbei bemerkt schlimmsten - Minuten deines Lebens - zurück. Ich werde mich nicht mit deinem Blut und irgendwelchen kleinen Hautstücken besudeln. Ich muss zum Unterricht. Bis dahaan!" Mit diesen Worten verschwand sie um die Ecke.
Ihre letzten Worte waren wie ein Zeichen für Tatiana. Sie kam näher und näher. Genüsslich grinsend hob sie ihre Faust, bereit zum Zuschlagen. Und keiner rettete mich vor dem, was jetzt kommen würde.

Es war tatsächlich sehr, sehr schmerzhaft. Tatianas erstem Schlag konnte ich noch ausweichen, doch Amber packte mich fester und ihre Hände schlossen sich wie Schraubstöcke um meine Arme, packten abwechselnd meine Handgelenke, und dann wieder meine Unterarme. Sie wusste nicht, wo es mir am meisten wehtat. Das war gut für mich. Bis zu einem gewissen Grad.
Mein Gehirn schrie mir zu, ich solle einfach irgendwo hinter mich treten, ich würde schon einen Treffer landen. Doch das glaubte mein Instinkt wiederum nicht wirklich. Er riet mir, mich plötzlich umzudrehen und Amber ins Gesicht zu schlagen, wie Tatiana es gerade mit mir machte oder meine Ellenbögen in ihren Bauch zu treiben. Doch es war noch unwahrscheinlicher, dass es klappte, als bei der ersten Möglichkeit.

Tatiana hieb ihre Faust in mein Gesicht, direkt auf meine Nase, wie ich es vermutet hatte. Mein Instinkt und mein Gehirn waren sich ausnahmsweise einmal beide einig, als sie mir zuschrien, dass mir das auch nichts brachte. Doch es motivierte mich. Ich hatte eine richtige Vermutung angestellt, vielleicht schaffte ich das noch einmal? Dann konnte ich Tatianas nächsten Schlag vorausahnen. Ich grinste. Obwohl Tatiana gerade dabei war, mein Gesicht zu entstellen. Obwohl meine Situation überhaupt kein Grinsen erforderte, kein Grinsen brauchte. Meine Situation brauchte eine rettende Lösung. Und ich hatte eine.

Tatiana hielt inne. Mein Grinsen irritierte sie. Genau, wie ich geplant hatte. Blitzschnell nutzte ich die kurze Verschnaufpause, um ihr mein Bein gegen das Knie zu rammen. Warum ich das nicht schon früher gemacht hatte? Es hätte vermutlich nichts gebracht. Nur noch mehr Verletzungen. Und die wollte ich nun wirklich nicht.
Es half nichts, also trat ich Tatiana gegen das Schienbein. Wieder keine Regung. War dieses Mädchen etwa unverwundbar? Meine Güte. Ich verdrehte die Augen, während sie sich dazu entschied lieber mit dem Blöd-Glotzen weiterzumachen. Besser für mich. Schlecht für sie.

Ich sog die Luft ein und wartete, bis Amber wieder nach meinen Unterarmen greifen wollte. Ich ließ sie nicht, stattdessen riss ich meine Hände nach vorne und verpasste Tatiana einen Kinnhaken. Sie schaute überrascht und ich machte einfach weiter. Amber schien auch erstaunt, zumindest hinderte sie mich nicht, als ich mich daran machte, Tatiana ordentlich zu verprügeln. Einen Ellenbogenhieb hier, ein Schlag auf die Hüfte da. Und die Kinnhaken machten mir besonders viel Spaß.

Als ich fertig war, starrte Tatiana immer noch. Sie starrte und starrte und starrte. Bis ich ihr einen Schubs gab und sie einfach umfiel. Wie ein Dominostein. Ich zuckte mit den Schultern. Sollte Tina sich damit herumschlagen. Ich stieg über Tatiana hinweg.

,,Nicht so schnell. Ich krieg 50 Euro dafür, also werde ich nicht einfach aufgeben." Ich stöhnte auf. Amber hatte ich völlig vergessen. Moment mal. 50 Euro? Ich drehte mich um. ,,Kannst du nicht einfach mal dein Maul halten und deiner... Freundin helfen? So wie ein echter Mensch?" Sie schnaubte. ,,Kämpf doch gegen mich, dann sehen wir, wer von uns der bessere ist", schlug sie vor. Echt jetzt? Ich seufzte. ,,Ich habe gerade deine verdammte Kollegin... oder so... verprügelt und du willst dich mit mir anlegen?", fragte ich. ,,Ernsthaft?" Sie nickte. Und grinste. ,,Letztes Jahr konnten wir hier an der Schule Karate machen. Ich hab es bis zum braunen Gürtel geschafft." Stolz regte sie das Kinn. Ich überlegte, ob ich es ihr einschlagen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich war viel zu beschäftigt damit, krankhaft weiß zu werden. Ich glaubte zwar nicht, was sie sagte, doch der braune Gürtel in Karate... Das war viel weiter, als ich es je von ihr gedacht hatte.
Vielleicht sagte sie doch die Wahrheit? Dann war ich ziemlich aufgeschmissen. Und wenn sie bluffte, dann aber richtig gut. Ich konnte mich nicht entscheiden. Wahrheit oder Bluff? Kämpfen oder Reden?

Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mir einen Schlag in die Magengrube versetzte, der alle Luft aus mir entweichen ließ. Außerdem wollte ich mich absolut gerne übergeben.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich musste kämpfen. Gegen ein Mädchen, dass vielleicht den braunen Gürtel in Karate hatte... Mein Magen rebellierte. Doch ich musste. Jetzt.

Allein auf HawaiiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt