20 Jahre später

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Die alte Dame betrachtete wehmütig das alte Foto. Es war vor vielen Jahren entstanden, genauer gesagt vor 20 Jahren. Darauf war ein etwa 12-jähriges Mädchen zu sehen, in der Hand hatte es einen Rucksack. Sie war bereit zu gehen. Für immer.

Das Mädchen lächelte nicht in die Kamera, im Gegenteil, sie war voll und ganz damit beschäftigt, die richtigen Dinge für ihre Reise einzupacken. Ihre Reise ins ungewisse. Damals hatte die Frau, die jetzt das Foto zurück auf ihren Nachttisch legte, nicht gewusst, dass das Mädchen es ernst gemeint hatte. Dass sie wirklich abhauen hatte wollen. Dementsprechend hatte sie sie nicht daran gehindert zu gehen, hatte sie ermutigt. Und dabei hatte sie die Tränen in den Augen des Kindes übersehen. Echte Tränen.

Das Kind war die Tochter der Frau. Sie hieß Quinn.
Und wenn sie nicht gegangen wäre, dann würden sie vermutlich jetzt alle beisammen sitzen und ihren 32. Geburtstag feiern. Sie, ihr Mann und Quinn. Ihre Tochter würde die Kerzen auf ihrem geliebten Apfelkuchen ausblasen, den sie für sie gebacken hatte und sie würden über alte Erinnerungen sprechen.

Wenn sie doch nur nicht gegangen wäre...

Sie trat aus dem Zimmer, holte sich eine Tasse Kaffee aus der Küche und setzte sich draußen auf die Veranda. Das schon etwas ältere Holz knarzte unter ihren Füßen, doch es machte ihr nichts aus. Vielleicht sollte sie langsam aufhören um ihre verlorene Tochter zu trauern. Vielleicht sollte sie die Geschichte ruhen lassen.

Ihr Mann setzte sich neben sie. Seine Haare waren schon zum Teil ergraut. Doch das Lächeln, dass er ihr zuwarf, war immer noch dasselbe wie vor 20 Jahren. Es beruhigte sie sofort. Auch, wenn ihre Tochter damals gegangen war, als sie alle im Streit miteinander gelegen hatten, hatte sie ihre Tochter immer noch so lieb wie vor dem Streit. Doch sie wusste, dass Quinn ihre Liebe nun nie mehr erfahren würde.

Nach einem Jahr des Suchens hatte die Polizei Quinn für tot erklärt, eine Beerdigung organisiert und sie war in Vergessenheit geraten. Sie erinnerte sich noch genau an dieses eine Mädchen auf der Beerdigung. Sie hatte dauerhaft geweint und dabei Unmengen an Taschentüchern aus ihrer rosa Handtasche gezogen. Und nach der Beerdigung hatte sie noch mindestens eine Stunde lang an dem leeren Sarg gestanden und gemurmelt, dass es ihr leid täte. Sie hatte sich für etwas entschuldigt, einen Vorfall an der Schule, so viel hatte die Frau mitbekommen. Sie war gerührt von dieser Rede gewesen, die nur für Quinn bestimmt gewesen war. Und als sie sich zu erkennen gegeben hatte, war das Mädchen schluchzend davon gelaufen, nicht ohne sich noch weitere Male bei dem leeren Sarg zu entschuldigen und zu erklären, dass es einzig und allein ihre Schuld gewesen war, dass Quinn nicht mehr zurück kommen würde.

Sie hatte es nicht verstanden und tat es auch heute noch nicht, doch entscheidend war, dass sie selbst auch dachte, Quinn sei ihretwegen weggelaufen. Sie dachte, dass der Streit, den sie gehabt hatten, verantwortlich dafür gewesen war, dass Quinn wahrscheinlich tagelang durch den Dschungel geirrt war, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihr helfen würde. Und dann war sie höchstwahrscheinlich gestorben. Ohne etwas zu trinken oder zu essen. Ohne jemanden an ihrer Seite. Ohne sie an ihrer Seite.

Augenblicklich begann sie zu weinen. Ihr Mann nahm sie wortlos in den Arm.
Nach einigen Minuten, in denen sie einfach so dagesessen hatten, löste sie sich aus der Umarmung. ,,Ich sollte wohl besser wieder rein gehen, ich bin momentan etwas durcheinander", setzte sie nach und verschwand ins Haus. Ihr Mann nickte verständnisvoll.

Oben im Schlafzimmer angekommen, machte sie die Tür hinter sich zu und atmete langsam aus. Dann drehte sie sich um. Und erstarrte.

Auf dem Bett das ein Kind. Ein Mädchen, um genau zu sein. Ein etwa 12-jähriges Mädchen.

Es war Quinn. Und sie schien um keinen Tag gealtert zu sein.

,,Quinn, Schätzchen! Es tut mir ja so leid! Ich wollte das doch alles nicht! Ich dachte, du wärst tot! Wie... hast du..." Das Mädchen setzte sich neben sie und strich ihr tröstend über den Rücken. ,,Keine Sorge. Alles wird gut. Mommy hat mir diesen Brief für dich gegeben." ,,Mommy? Wer ist..." Weiter kam sie nicht, denn das Mädchen hielt ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen. Zögernd öffnete sie es. Und konnte nicht glauben, was sie las.

Hallo Mum,

hier ist Quinn, deine Tochter. Es geht mir gut und nein, ich bin nicht tot. Das Mädchen, das dir diese Nachricht hoffentlich überbracht hat, heißt Sally. Sie ist meine Tochter und sie ist genauso alt wie ich, als ich gegangen bin. Was ich getan habe war eine spontane Entscheidung und es tut mir leid, aber ich bereue nicht, dass ich endlich meinem eigenen Willen nachgegangen bin.

Du magst schockiert sein, wenn du diese Nachricht liest, aber ich denke, du kannst tief im Herzen meine Entscheidung nachvollziehen. Zumindest hoffe ich es.

Ich habe meinen Abschluss in Wirtschaftslehre gemacht und habe jetzt einen Job. Und die perfekt unperfekte Tochter. Sie ist genauso geworden, wie ich wollte, weil ich sie habe machen lassen. Wenn du diese Nachricht liest, werde ich wahrscheinlich gerade im Büro meines Chefs sitzen und beantragen, dass ich vom Ausland aus arbeiten kann. Von Hawaii aus. Denn ich beabsichtige, zurück zu kommen. Vielleicht stößt du jetzt einen Freudenschrei aus, vielleicht weinst du jetzt oder du sitzt einfach da und kannst nicht verarbeiten, was du gerade liest. (Ich tippe auf Letzteres) Ich hoffe dir und Dad geht es gut und ihr habt euch nicht allzu viele Sorgen gemacht, denn mir ist es die letzten Jahre prächtig ergangen.

Bitte nimm Sally bei dir auf, bis ich wieder da bin. Lass sie sich Bücher ausleihen, sie liebt es zu lesen!

In Liebe, Quinn

Sie griff sich ans Herz, versuchte zu verarbeiten, was sie eben gelesen hatte. Dann schaute sie sich ihre Enkelin genauer an. Sie war wunderschön, genauso hübsch wie ihre Mutter.

,,Habt ihr hier Bücher, mir ist ehrlich gesagt ein wenig langweilig", erklärte das auf dem Boden sitzende Mädchen. Sally. Ihre Enkeltochter. Ihre Enkeltochter. ,,Ja, natürlich, nimm dir einfach etwas, dass interessant aussieht", flüsterte die Frau. Dann rannte sie hinaus auf die Veranda um die frohe Botschaft ihrem Mann zu verkünden.


Allein auf HawaiiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt