~Achtunddreißig Tage davor~

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Am nächsten Tag fühle ich mich wie gerädert. Nicht, dass das was Neues wäre, doch heute kann ich mich nicht einmal daran erinnern, überhaupt ein Auge zugemacht zu haben.

Ich strecke meine Hand nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch aus, in der Hoffnung, so wenigstens den schalen Geschmack aus meinem Mund zu vertreiben, doch ich greife ins Leere. Seufzend setze ich mich auf und schwinge meine Beine über den Bettrand.

Als meine nackten Füße den Boden berühren, zucke ich zusammen. Mit zusammengebissenen Zähnen lehne ich mich über den Bettrand. Aus dem Boden direkt neben meinem Bett hat sich eine eiskalte Wasserlache gebildet, in der winzige Glassplitter schwimmen. Leise fluchend ziehe ich meine Beine hoch. Zum Glück hat sich nur eine einzige Scherbe in meine rechte Fußsohle gebohrt.

Mit spitzen Fingern ziehe ich das Glasstück aus meiner Haut. Augenblicklich tritt Blut aus der Schnittwunde. Ein Messer hätte ich steckengelassen, ich bin ja kein Schwein auf der Schlachtbank. Aber eine Scherbe? Überrascht von der Menge an Blut, die binnen kürzester Zeit aus der mickrigen Wunde quillt, wickle ich eine mehrschichtige Lage Taschentücher um meinen Fuß und stopfe ihn anschließen in einen Socken. Das sollte fürs Erste reichen.

Als es dreiundzwanzig Minuten später an der Tür klopft und eine Schwester mit dem Frühstück hereinkommt, ist der Boden zwar immer noch kalt, dafür aber trocken, ich sitze vollständig angezogen auf meinem Bett und alle weiteren Spuren des gläsernen Massakers sind restlos beseitigt.

„Na, du bist ja schon früh munter." Die Schwester lächelt ahnungslos. Kurz durchfährt mich ein Stich.

„Wo ist Schwester Amelie?"

Ich kann mich nicht zurückhalten, nicht zu fragen, auch wenn ich weiß, dass ich die Antwort vermutlich nicht hören will.

„Tut mir leid, die hat heute keine Schicht."

Ich nicke und atme auf, auch wenn das dumm ist, weil ihr Brief noch immer in der verschlossenen Schublade liegt.

Ich zwinge mich zu einem Nicken und Lächeln, als die Schwester mir das Frühstück serviert. Ich langsam mal wirklich aufhören, so eine Memme zu sein.

„Kann ich noch ein Glas Wasser bekommen?", frage ich, als die Schwester mein Zimmer gerade wieder verlassen möchte.

Sie dreht sich zu mir um. Ihr Blick fällt auf den leeren Nachttisch.

„Natürlich. Bringe ich dir sofort."

Erst als die Tür zufällt atme ich ehrleichtert auf.

Ich korrigiere mich: Ich muss augenblicklich einen Mordplan für die Memme in mir schmieden.

Als ich wenige Stunden später auf dem Weg zur Physiotherapie bin, bin ich fest überzeugt, dass der Tag endlich besser werden würde. Krank, aber wahr. Ich freue mich tatsächlich.

Achtung, Spoiler: Die Freude hielt nicht exorbitant lange.

Drei elementare Dinge stelle ich innerhalb einer halben Stunde fest, von denen ich überzeugt war, dass sie mein zukünftiges Leben maßgeblich prägen würden.

Erstens, traue nie einem stämmigen Mann im Poloshirt, der den harmlosen Namen Danny trägt und dir eine Menge Spaß verspricht. Er ist weder harmlos, noch ist es auf irgendeine Weise für dich spaßig, während er sich prächtig amüsiert.

Zweitens, Gehen ist tatsächlich eine Sportart. Ich sollte mich demnächst mal bei den Paralympics anmelden. Vielleicht bin ich ja gut genug für eine Teilnehmerurkunde.

Drittens, ich wünschte im Leben gäbe es Abkürzungen.

Danny strahlt mich bei jeder Übung an, als würde er sich ernsthaft freuen, sich mit mir abzugeben, und nicht nur so tun, weil er dafür bezahlt wird. Schwitzend, schnaufend und zitternd vor Anstrengung klammere ich mich an dem rutschigen Ring fest, als hinge mein Leben davon ab, während Danny fröhlich und ausgelassen daneben am anderen Ende steht und mich erbärmlich anzuspornen versucht.

„Komm schon Julika! Nur noch drei! Das schaffst du!"

Am liebsten würde ich ihm zuschreien, er solle seine Schnauze halten, aber ich bekomme so schon kaum Luft. Mühsam spanne ich meine Muskeln an und versuche, dass letzte Bissen Kraft in meinen Armen zu bündeln. Nach einem weiteren Klimmzug rutschen meine Finger ab und ich schlage dumpf auf dem Boden auf.

Ich wünschte, ich wäre einfach nicht mehr aufgewacht.

Wieder zu leben heißt für mich bloß, nicht irgendwo in einer Holzkiste in der Erde verscharrt, vor mich hin zu vegetieren. Ich mag vielleicht lebendig sein, aber leben tue ich ganz sicher nicht. Hätte ich vorher gewusst, das aufwachen bedeutet, alles neu lernen zu müssen, sich wie ein nutzloses Kleinkind zu fühlen, hätte ich mich nicht gegen das Licht gewehrt.

Schnaufend atme ich durch und nehme dankbar die Flasche Wasser entgegen, die Danny mir reicht. Ich kann nicht mehr. Meine Schulter brennt vor Schmerzen, aber ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich das Stechen einfach nicht mehr wahrnehme.

Danny lobt mich und sagt, wie toll ich das gemacht hätte und wie stark ich doch sei, doch ich höre nicht ihm zu. Viel konzertierter lausche ich dem Pulsieren in meinem Ohr.

Die Übungen haben verdammt an meiner Energie gezerrt und zum ersten Mal seit Tagen wünsche ich mich in mein Bett zurück. Als ich später unter der Dusche stehe, habe ich nicht einmal mehr genug Kraft, um meine Gedanken zu fokussieren. Stattdessen fühle dumpf und taub. Ich schaffe es gerade noch so, mich zum Bett zu schleppen, ehe ich in einen komatösen Schlaf falle.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 15, 2022 ⏰

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