1. Kapitel

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6 Monate später

Emma

Nach diesem, mir unendlich lang vorkommenden Tag, sitze ich wieder im Krankenhaus vor dem Bett, in dem Finn schon so lange liegt.
Bei der Schießerei in der Halle wurde er in der linken Brust getroffen. Die Kugel hat sein Herz nur knapp verfehlt.
Außerdem erlitt er beim Aufprall auf den Boden eine Kopfverletzung.
Nach diesem Vorfall ist er ins Koma gefallen.

Die darauf folgende Notoperation hat mehrere Stunden gedauert, konnte dank der Ärzte aber erfolgreich durchgeführt werden.
Seit dem vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht bei ihm bin, mit ihm rede und bete, dass er endlich aufwacht und wieder an meiner Seite ist.

Ohne ihn fühle ich mich so unfassbar leer und einsam. Es ist, als wäre mit ihm auch ein Teil von mir ins Koma gefallen. An manchen Tagen versucht mein Körper einfach nur mich am Leben zu halten und ich lasse es teilnahmslos zu, bekomme nicht wirklich mit, was um mich herum geschieht.

Die Tür hinter mir öffnet sich und zwingt mich dazu, meine Gedanken zu verlassen.
Ich verbringe ohnehin zu viel Zeit damit, mir über alles den Kopf zu zerbrechen. Die Schuldgefühle und die Trauer zerfressen mich innerlich. Ich bin froh, wenn ich mal etwas Abstand davon bekomme.

Ich drehe meinen Kopf ein Stück zur Seite, und sehe Finns Ärztin auf mich zukommen.
Bevor sie auch nur ein Wort von sich gibt, weiß ich bereits, wie dieses Gespräch laufen wird. Es ist doch immer wieder dasselbe.

Dr. Hall gibt mir die Hand und sieht mich mit demselben Blick an, wie jedes Mal, wenn sie mich antrifft.
„Guten Abend, Miss Brown. Heute Morgen wurden einige Untersuchungen durchgeführt. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen, dass sich die Ergebnisse nicht verändert haben. Sein Zustand ist zwar grundlegend stabil, aber er hat sich nicht verbessert."

Ich weiß nicht, wie oft mir diese Sätze jetzt schon gesagt wurden. Meistens schalten meine Ohren auf Durchzug, wie ein Automatismus, der sich mit der Zeit entwickelt hat.
Ihrem Augenkontakt wich ich direkt aus.
Ich kann das einfach nicht mehr ertragen.
Dieser mitleidige Ausdruck, mit dem mich jeder seit Monaten ansieht.

Niemand weiß, wie ich mich fühle.
Niemand kann auch nur annähernd nachvollziehen, was ich seit Monaten durchmache und trotzdem kommen sie zu mir und behaupten sie verstehen, wie es mir geht.
In Wahrheit verstehen sie überhaupt nichts.

Ich nicke der Ärztin verstehend zu und lege meinen Blick wieder auf Finn.
Obwohl er nicht wirklich anwesend ist, ist er der einzige Ruhepol in meinem Leben.
„Danke", bringe ich knapp hervor. Zu mehr bin ich gerade nicht imstande.

Sie seufzt und legt ihre Hand auf meine Schulter. „Glauben Sie mir, es fällt auch einer Ärztin nicht leicht ständig dieselben schlechten Nachrichten überbringen zu müssen, aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Es ist gut, dass sie jeden Tag hier sind und mit ihm reden."

Ich antworte ihr auch darauf nicht und warte stattdessen einfach, bis sie den Raum wieder verlässt.
Irgendwie tut sie mir leid. Sie bekommt all das ab, was sich in mir staut. Dr. Hall kann im Grunde nichts dafür, dass er noch nicht aufgewacht ist. Dafür kann niemand etwas, außer diejenigen, die ihm das angetan haben.

Ich versuche wirklich positiv zu bleiben und die Hoffnung nicht zu verlieren, aber wenn man sechs Monate lang dasselbe gesagt bekommt, fällt es einem schwer dieses Denken aufrechtzuerhalten.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber dennoch stirbt sie irgendwann, richtig?

Just an enemy, right? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt