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Unsicheren Schritts arbeitete Lukas sich langsam die Straße entlang, auf dem Heimweg von einer WG-Party von irgendwelchen Leuten, die er nicht einmal wirklich kannte. Aber so war es eben, Freunde von Freunden erzählten etwas von einer Party bei irgendwelchen Freunden von Freunden und schon drängte sich die halbe Uni in einer Vierzimmerwohnung und alle besoffen sich fröhlich, um den Beginn des neuen Wintersemesters 2009/10 zu feiern. Diese WG-Partys waren meistens viel besser als die offiziellen Semestereinstiegspartys der Fachschaften.

Doch leider musste man wie immer für den Spaß in der Nacht am nächsten Morgen teuer bezahlen.

Vielleicht waren es doch ein paar Bier zu viel gewesen. Oder er hätte nicht Bier und Schnaps durcheinander mischen sollen. Oder zumindest nichts von diesem seltsamen, knallgrünen Gemisch trinken sollen, das irgendein Möchtegern-Barkeeper zusammengepanscht hatte. Aber man wusste es hinterher immer besser.

Sein Kopf dröhnte und pochte schmerzhaft, als würde ihn jemand mit einem Vorschlaghammer bearbeiten. Hier bahnte sich scheinbar der Kater seines Lebens an, und das mitten in der Woche. Mitten in der ersten Vorlesungswoche, wohlgemerkt. Zum Glück hatte er heute erst am Nachmittag Vorlesung, sodass er wenigstens ein paar Stunden haben würde, um seinen Rausch ausschlafen zu können. Die erste Vorlesung im Semester zu schwänzen, war nicht so ratsam. Es könnte ja die ein oder andere wichtige Info geben, genauso wie in der letzten Vorlesung vor den Prüfungen. Dazwischen brauchte man sich meistens nicht mehr im Vorlesungssaal blicken lassen, denn das Skript konnte er auch selbst lesen und brauchte dafür nicht die Schlaftablette von Dozent, der sowieso nur von den Folien ablas.

Fast wäre Lukas an dem Altbau, in dem er wohnte, vorbei getorkelt, doch im letzten Moment erkannte er das Gebäude doch noch und ging die paar Schritte zum Hauseingang zurück. Er brauchte mehrere Anläufe, um den richtigen Schlüssel herauszusuchen und nochmal drei Versuche, um das Schlüsselloch zu treffen. Zum Glück war es gestern Nacht mit der kleinen Blondine von der FH nicht über etwas Rumgeknutsche hinausgegangen, denn wäre er bei ihr genauso treffsicher gewesen wie jetzt beim Aufschließen des Schlosses, wäre das mehr als peinlich gewesen.

Die nächste Hürde wartete im Haus auf ihn, in Form der für viele Altbauten typischen, gewundenen Treppe, die zu seiner WG im ersten Stock führte. Schon vom Anblick der Treppe drehte sich ihm der Kopf, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Aufstieg in Angriff zu nehmen, denn einen Aufzug gab es selbstverständlich nicht.

Nachdem Lukas erfolgreich, ohne das Treppenhaus vollzukotzen, vor seiner Wohnungstür angekommen war, hatte er nur noch einmal kurz mit dem Wohnungsschloss zu kämpfen, bis er schließlich endlich die Tür öffnen und in die Wohnung stolpern konnte.

Drinnen war alles dunkel und still. Daniel, sein Mitbewohner, schien also noch zu schlafen. Kein Wunder, es war schließlich gerade mal viertel vor acht Uhr morgens, sogar für einen Streber wie Daniel noch viel zu früh zum Aufstehen.

Bei jedem seiner Schritte knarrte der alte Holzfußboden, sodass er sich die Mühe, leise zu sein, auch sparen konnte. Auf dem Weg durch die Diele, stellte Lukas fest, dass die Tür zum Zimmer seines Mitbewohners offen stand. Er warf einen Blick hinein. Das Zimmer war leer, das Bett sah mehr oder weniger gemacht aus, jedenfalls lag das Bettzeug unordentlich zusammengefaltet an einem Ende des Bettes. Also war Daniel schon wach. Aber wo war er? In der Wohnung war kein Geräusch zu hören, abgesehen von dem Brummen ihres altersschwachen Kühlschranks in der Küche. Vielleicht war er ja kurz einkaufen gegangen, als er gemerkt hatte, dass es mal wieder gar nichts zum Fressen gab? Aber lagen seine Schuhe nicht neben der Wohnungstür und hing die Jacke nicht am Garderobenhaken? Er könnte ja was anderes angezogen haben. Oder er saß vielleicht auf dem Klo. Womöglich hatte er gestern die seit einem halben Jahr schon abgelaufenen Ravioli aus der Dose gegessen, die bestimmt noch vom Vormieter stammten. Das wäre jetzt nicht so günstig, denn Lukas musste dringend auf Klo, weil das ganze Bier inzwischen doch ziemlich auf die Blase drückte.

„Hey Alter, biste da drin?", rief er mit schwerer Zunge und hämmerte gegen die Klotür. „Ich muss pissen!"

Keine Antwort. Erst jetzt stellte Lukas fest, dass im Klo kein Licht brannte. Eher ungewöhnlich, bei einem Klo ohne Fenster. Also war Daniel doch einfach nur unterwegs.

Er riss die Tür zur Toilette auf, fand nach einigem Herumtasten den Lichtschalter und knipste das Licht an. Wie erwartet, war das im typischen 70er-Jahre-Stil senfgelb geflieste, potthässliche Bad leer. Mit einem erleichterten Seufzen pinkelte Lukas ausgiebig, was eine ganze Weile dauerte. Nach dem Spülen machte er sich leicht schwankend auf den Weg in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen und dann endlich ins Bett zu gehen.

Der Anblick, der sich ihm in der Küche bot, führte das herbei, was die Wendeltreppe im Treppenhaus nicht geschafft hatte: Die halbverdaute Mischung aus Bier, anderem Alkohol, Chips, Käsestangen und weiteren Partysnacks machte sich auf den Rückweg seine Speiseröhre hoch und ergoss sich in einem großen Strahl auf den Küchenboden.

Nachdem er auch den letzten Rest seines Mageninhalts ausgekotzt hatte, war Lukas wieder stocknüchtern. Er rieb sich die tränenden Augen und wagte nochmal einen genaueren Blick in die Küche.

Daniel war nicht einkaufen oder sonst wohin gegangen, soviel war nun klar. Er lag ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten auf dem versifften Boden ihrer Küche und rührte sich nicht. In seinem Hinterkopf klaffte ein großes, blutiges Loch. Man sah Knochensplitter aus der Wunde hervorragen. Einiges an Blut war herausgesickert, auf den Boden neben Daniels Kopf gelaufen und hatte dort eine dunkelrote Pfütze gebildet.

Ohne wirklich nachzudenken, trat Lukas vorsichtig zu seinem Mitbewohner, beugte sich herunter und streckte die Hand nach seiner Schulter aus. Kaum hatte er den am Boden liegenden Körper berührt, wich er sofort wieder zurück, bis er mit dem Rücken an die Küchenwand stieß.

„Verdammte Scheiße", hauchte er erschrocken.

Nein, Daniel würde ganz bestimmt nirgendwo mehr hingehen oder etwas anderes tun können. Er würde nämlich gar nichts mehr tun können.


Im Namen der GerechtigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt