Man sagte, Wasserleichen wären kein besonders schöner Anblick. Glücklicherweise hatte Jessica noch nie eine in echt gesehen. Bis jetzt. Und sie musste zugeben: Es stimmte, was man sagte.
„Sehr bedauerlich, dass wir die Bekanntschaft mit Luisa Steinfeld nicht mehr machen konnten", murmelte Plattenberg und blickte auf die Tote herab. „Zumindest nicht mit ihrer lebenden Version."
Von der elfenhaften Schönheit, die Luisa mit ihrer Schwester gemeinsam hatte, war nach dem Tod nicht mehr viel übriggeblieben. Ihr einst hübsches Gesicht war zu einer aufgedunsenen, gräulich-blassen Totenmaske verkommen, die blonden Haare klebten ihr nass und verknotet am Kopf, die blauen Augen waren gebrochen und starrten leblos ins Leere. Ihre völlig durchnässte Oberbekleidung, bestehend aus einem dunkelblauen Trenchcoat, grauen Skinny-Jeans und einer einzigen, flachen Stiefelette, war bis auf einige wenige Beschädigungen mehr oder weniger intakt. Der zweite Schuh schien irgendwo im See verloren gegangen zu sein und der Gürtel des Mantels hatte sich gelöst und wurde von einem hässlichen, ausgefransten Riss verunstaltet.
„Jetzt wird sie uns auch nicht mehr verraten können, wie ihre Spuren an die Kleidung des toten Daniel Hubner kamen."
„Auch die Toten können uns so manches mitteilen", unterbrach die Rechtsmedizinerin den Monolog des Hauptkommissars und richtete sich wieder auf.
„Und was hat sie Ihnen so erzählt?"
„Vermutlich liegt sie bereits mehrere Tage im See. Der Waschhaut an den Händen nach zu urteilen, so drei bis vier. Die Todesursache scheint nicht Ertrinken zu sein, sondern eine Halswirbelsäulenfraktur der ersten beiden Halswirbel, mit anderen Worten: Genickbruch. Zumindest auf den ersten Blick. Genaueres natürlich wie immer..."
„...nach der Obduktion", vervollständigte Plattenberg ihren Satz.
„Können Sie denn trotzdem schon sagen, wie das passiert sein könnte?", fragte Jessica.
„Dem Verletzungsmuster zufolge würde ich vermuten, dass sie rücklings irgendwo draufgefallen ist. Auf eine scharfe Kante oder etwas Ähnliches. Dadurch kam es wahrscheinlich zu einer schweren Verletzung der Medulla oblongata, des Markhirns. Dort liegen lebenswichtige Nervenzellen, die Atmung und Blutkreislauf regulieren. Sie muss auf der Stelle tot gewesen sein."
„Also könnte das auch ein Unfall gewesen sein?"
„Durchaus, falls sie nicht vorsätzlich gestoßen wurde. Wie gesagt, nach der Obduktion sind wir schlauer."
„Sogar, falls es ein Unfall gewesen sein sollte, irgendjemand muss sie danach trotzdem in den See befördert haben", gab Plattenberg zu bedenken. „Alleine ist sie wohl kaum reingesprungen."
„Es wäre jedenfalls das erste Mal in meiner Laufbahn, dass eine Tote munter herumläuft und in einen See springt. Außerdem ist der Absatz ihres Schuhs hinten ziemlich abgeschliffen. Ein Anzeichen dafür, dass man sie über eine längere Strecke mit den Hacken über den Boden geschleift hat. Der zweite Schuh wird wohl ähnlich aussehen."
Die Rechtsmedizinerin packte ihre Sachen zusammen und hob ihren Arztkoffer hoch. „Ich fahre zurück ins Institut. Zu der Obduktion komme ich frühestens heute Nachmittag."
„Ja, ja, lassen Sie sich ruhig Zeit. Die Gute läuft Ihnen schon nicht weg. Es ist ja nicht so, dass wir einen Mord aufzuklären haben", konnte Plattenberg sich die Bemerkung nicht verkneifen.
Doch die Rechtsmedizinerin verdrehte nur genervt die Augen und stakste kommentarlos durch das nasse Gras davon zu ihrem Wagen.
„Irgendwie scheinen wir Fälle mit mehreren Toten und Seen magisch anzuziehen", bemerkte Jessica und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
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Im Namen der Gerechtigkeit
Mystery / ThrillerNichtsahnend kehrt Lukas von einer Party zurück und findet seinen WG-Mitbewohner tot in der Wohnung. Schnell ist klar, dass er ermordet wurde. Doch warum bringt jemand einen stinknormalen Studenten um? Ist ein Streit außer Kontrolle geraten? Sind Dr...