Melanie saß mit verheultem Gesicht und gesenktem Kopf ihnen gegenüber am Tisch des Vernehmungsraums und kratzte, genauso wie vor einigen Stunden ihr Vater, an ihrem Finger herum.
Man hatte ihr einen dunklen Pulli und eine Stoffhose gegeben, die als Ersatzkleidung im Frauenumkleideraum des Präsidiums herumlagen, damit sie nicht in ihren nassen Klamotten herumsitzen musste. Auch Jessica hatte sich trockene Sachen angezogen, während sie ihre durchnässte Kleidung über der Heizung zum trocknen aufgehängt hatte. Mit etwas Glück würde sie sie wieder anziehen können, wenn sie nach Hause ging, was, wie es aussah, nicht allzu bald sein würde.
Neben Melanie hockte ein sehr junger und ziemlich nervös wirkender Pflichtverteidiger, der so aussah, als würde er sich wünschen, dass nicht ausgerechnet sein Name von der Pflichtverteidigerliste ausgewählt worden wäre.
„Frau Hubner, Sie haben sich mit Ihrer Aktion vorhin wahrlich keinen Gefallen getan", meinte Plattenberg und betrachtete den frisch angelegten Verband an seiner Hand. „Geiselnahme, tätlicher Angriff, gefährliche Körperverletzung, das sind bei weitem keine Kavaliersdelikte, wie Ihnen ihr Anwalt bestätigen wird."
Bei seiner Erwähnung schien der Anwalt noch nervöser zu werden.
„Darum soll es hier aber nicht gehen, oder?"
„Stimmt, dieses bedauerliche Zwischenspiel soll nicht das primäre Thema unserer Unterhaltung sein. Reden wir lieber darüber, was am Dienstagabend vor einer Woche in der Wohnung Ihres Bruders geschehen ist, Frau Hubner. Sie waren doch dort am besagten Abend?"
„Darauf müssen Sie nicht antworten", raunte der Anwalt Melanie zu.
Sie starrte weiter hinab auf ihre zerkratzten Hände. Eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und lief ihre blasse Wange hinab.
„Ich wollte nur mit ihm reden", begann sie leise zu sprechen. „Ich wollte wirklich nur mit ihm reden! Aber dann... dann ist alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen..." Sie stockte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
„Wie wäre es, wenn Sie uns ganz in Ruhe schildern, was am Abend des 13. Oktobers geschehen ist. Ab dem Zeitpunkt, als Sie in Daniels Wohnung ankamen", schlug Plattenberg vor.
Der Anwalt öffnete den Mund und wollte offenbar etwas einwenden, doch Melanie kam ihm zuvor und begann zu erzählen.
***
Dienstag, 13. Oktober 2009, später Abend
„Was machst du hier so spät? Werden Mama und Papa sich nicht wundern, wo du bist?" Daniel wirkte nicht besonders erfreut über Melanies späten Besuch.
„Nee, werden sie nicht", meinte sie trocken. Wie denn auch, wenn Mama mit Schmerz-und Schlafmitteln zugedröhnt im Bett liegt und Papa in seinem Arbeitszimmer über den ganzen Rechnungen brütet und seinen Kummer in Schnaps ertränkt?
Aber das wusste Daniel nicht. Wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht.
Sie folgte ihrem Bruder in die Küche. Der Fliesenboden fühlte sich unter ihren Sohlen leicht klebrig an. Mit der Ordnung schienen Daniel und sein Mitbewohner es nicht so genau zu nehmen. Na ja, nach Mamas Unfall hatte ja auch sie alles im Haus machen müssen. Melanie, geh einkaufen. Melanie, putz das Haus. Melanie, hilf im Laden aus. Immer nur Melanie, Melanie, Melanie...
„Möchtest du eine Cola, oder so?", fragte Daniel und riss sie damit aus ihren Gedanken. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich.
„Ja, danke." Vorsichtig setzte Melanie sich an den Küchentisch.
Sie hatte den Eindruck, dass sie wie wildfremde Leute miteinander sprachen, obwohl sie Bruder und Schwester waren.
Daniel öffnete den alten, fleckigen Kühlschrank, der dringend abgetaut und sauber gewischt werden musste, und holte eine Colaflasche heraus. Dann nahm er zwei Gläser aus dem Küchenschrank, befüllte sie und setzte sich zu Melanie an den Tisch.
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Im Namen der Gerechtigkeit
Mystery / ThrillerNichtsahnend kehrt Lukas von einer Party zurück und findet seinen WG-Mitbewohner tot in der Wohnung. Schnell ist klar, dass er ermordet wurde. Doch warum bringt jemand einen stinknormalen Studenten um? Ist ein Streit außer Kontrolle geraten? Sind Dr...