16. Finn - Geschwisterliebe - erste Runde

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„Aha ...", machte mein Bruder schwerwiegend und ich schloss kurz die Augen. „Bitte, bitte, bitte ...", flehte ich bereits im Geiste. „Mach ihn nicht fertig!" Doch es war zu spät. Ich konnte das böse Funkeln in seinen Augen sehen. Das, welches ganz verdächtig nach „ich muss meinen kleinen Bruder beschützen" schrie und ich konnte absolut gar nichts dran ändern, oder es irgendwie verhindern.

„Du bist also der Vollidiot!", machte mein liebster Mensch auf Erden weiter und nun betete ich, bereits im Erdboden versinken zu dürfen. Das war eine Katastrophe der besonderen Art und hätte noch irgendwo ein Funken Hoffnung bestanden, Chris würde es sich anders überlegen und sich in mich verlieben, so war sie gewiss hiermit dahin.

„Live und in Farbe ...", witzelte Chris, doch sein Blick suchte panisch den meinen. Ich konnte regelrecht seine Fragen hören, ohne wirklich telepathisch veranlagt zu sein. Was hast du deinem Bruder erzählt? Tickt er nicht ganz richtig? Tickst du nicht richtig? Wo zur Hölle bin ich hier nur gelandet? Ich will hier weg! Jetzt sofort! Das starr sitzende Lächeln untermalte seine gedachten Fragen nur noch mehr.

„Lustig sind wir auch noch?", fragte hingegen mein charmanter Bruder trocken.

„Arne ...", knurrte ich ungehalten und blickte ihn direkt an, bevor der arme Chris darauf antworten musste. „Chris ist mein Gast und du bist unverschämt!"

„Ja und? Das, was du uns von ihm erzählt hast, lässt schlussfolgern, dass er ein Arsch ist. Und weiß Gott, du brauchst nicht noch einen mehr davon in deinem Leben."

„Ganz genau!", zischte ich ihm zu, während Micha sich verzweifelt im Hintergrund die Hände vor das Gesicht schlug. Der bereute gerade gewiss die Wahl seines Betthäschens. „Du sagst es, ein Arsch genügt." Ich war mittlerweile an ihn herangetreten und bohrte ihm meinen Zeigefinger in die Brust. Er sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, jemand anderer als er selbst könnte damit gemeint sein.

„Finn ...", wollte er gerade kontern, doch da kam mir Michael endlich zur Hilfe. Er griff sein Schätzchen am Oberarm und zog ihn ein Stück von mir weg. War nur die Frage, um wem er sich gerade mehr sorgte.

„Wollt ihr nicht kurz in deinem Zimmer weiter machen, Finn?", schlug er noch freundlich vor und schleifte schlussendlich seinen Freund davon, der immer noch versuchte Chris mit Blicken zu erdolchen.

„Wenn du jetzt gehen willst, würde ich es verstehen ...", gestand ich nach einer Ewigkeit des Schweigens, weil ich die Antwort fürchtete. Aber ich war auch kein Unmensch, Chris zu zwingen immer noch hier zu bleiben, glich einer Folter, auch wenn ich natürlich insgeheim nicht wollte, dass er ging. Nach Arnes Auftritt wohl auch für immer!

Hatte ich schon erwähnt, dass ich Arne gerade hasste? Dass ich ihm, sobald Chris verschwand, den Kopf abreißen würde? Um ihn anschließend an Haifische zu verfüttern? Ehrlich wahr! Gnade ihm Gott, wenn ich ihn in die Finger bekam, da konnte auch kein Doktor mehr helfen!

„Schon ok! Wenn du nichts dagegen hast, sprechen wir den Rest kurz in deinem Zimmer durch." Bekam ich leise die Antwort, mit der ich am wenigsten gerechnet hatte. Völlig überrascht konnte ich nur leicht nicken und ging voraus in mein Zimmer.

Nach dem ich ihm den Vortritt gelassen hatte und Chris durch die Tür durch war, verschloss ich sie und lehnte mich dagegen. Sicher war sicher, nicht das er doch noch die Flucht ergriff!

„Es tut mir so so leid ...!", flüsterte ich in die Stille hinein und ließ den Kopf hängen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die ganze Last der Welt auf meinen Schultern zu tragen. Ich verrannte mich sooft in irgendwelche Kerle, aber dieses Mal war es trotzdem irgendwie anders. So, als stünde mehr auf dem Spiel. Als würde es viel schwieriger werden, diesen Verlust zu verkraften. Da würde eine einfache Klinge nicht helfen, den Schmerz zu verdrängen.

„Ich kann es verstehen ...", antwortete Chris nach einem Zögern. „Darf ich?", dabei zeigte er auf mein Bett und setzte sich, bevor ich nickend zustimmen konnte. „Komm mal her ...", bat er folgend und klopfte auf den freien Platz neben sich.

Fröstelnd stieß ich mich von der Tür ab, hielt bei meinem Schrank inne und holte mir eines meiner Longsleeves, um hineinzuschlüpfen. Dann setzte ich mich zu ihm.

Es war ein komisches Gefühl, hier neben ihm zu setzten. Ihm so nah zu sein, in meinem Reich. Seine Körperwärme zu fühlen. Seinen Geruch einzuatmen, einfach zu wissen, dass er da war, auch wenn die Umstände nicht schlechter stehen konnten.

„Weißt du, Finn ...", begann er und unterbrach sich selbst. Griff nach meiner Hand und legte sie in seinen Schoß. Spielte mit meinen Fingern und streifte immer wieder mein Handgelenk.

Ich hielt den Atem an. Fühlte nur noch. Dieses feine Prickeln auf meiner Haut, das über die Nervenbahn durch meinen Körper schoss und mich leicht werden ließ. Es war so ein schönes Gefühl und doch war mir bewusst, dass Chris das völlig unterbewusst tat. Er war mit seinen Gedanken so weit weg, dass er gar nicht bemerkte, was er hier tatsächlich trieb.

„Ich weiß, dass meine nachfolgenden Worte abgedroschen sind und nach einer Ausrede klingen, aber ich finde gerade keine Besseren." Sein Druck verstärkte sich, während er weiter Löcher in meine Wand starrte. „Dass ich dich abgewiesen hatte, hat nichts mit dir zu tun. Es liegt nur an mir und daran, dass ich nichts übereilen will ..." Während er so sprach, verkrampfte ich mich immer mehr. Ich hatte schon eine Abfuhr, ich brauchte nicht noch eine mehr auf meiner Liste. Also versuchte ich meinen Arm zurückzuerobern, und ihn aus seinem Klammergriff zu ziehen, doch Chris ließ mich nicht los. „Mein Ex hat mich belogen und betrogen und ich habe die Beziehung nach Jahren erst vor wenigen Tagen beendet ..."

„Schon okay!", fiel ich ihm ins Wort, wenn mein Befreiungsversuch schon scheiterte. „Du musst mir das nicht erklären. Du willst nichts von mir, damit werde ich wohl klarkommen müssen."

„Aber so ist es doch gar nicht ...", war es nun an ihm mir ins Wort zu fallen. Etwas verzweifelt fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, bis er mir fest in die Augen sah. „Ist es wirklich nicht ..." Eine Gänsehaut überzog meinen Nacken. Mein Mund wurde trocken. Diese wunderschönen dunklen Augen. Die nur mich ansahen. Mich innerlich zum Schmelzen brachten.

Ich merkte, wie sich mein Oberkörper bewegte. Millimeter für Millimeter kam ich ihm näher und er kam mir entgegen. Das bildete ich mir nicht ein. Es geschah wirklich. Nur noch einen Augenblick. Dann, ja dann würde ich endlich seinen Lippen auf den meinen spüren. Ihn schmecken.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte vergessen zu atmen. Wie eine Motte hypnotisiert vom Licht. Ich spürte die Wärme, die von ihm ausging. Spürte seinen heißen Atem auf meinen feuchten Lippen. Schloss die Augen und ließ los.

Weiche, süße, zarte Lippen landeten auf meinen. Und ich war verloren.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ uns wie Teenager auseinanderfahren. Zur Hölle, jetzt würde mein Bruder endgültig mit dem Leben bezahlen.

Mr. Unverschämt (Mr. 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt