BIN ICH KAPUTT? ʰʸᵘⁿʰᵒ

02. Die Bibel, der Duden und Twilight

ㅤ
ㅤ
ㅤ
┌────────────┐
z w e i
DIE BIBEL, DER DUDEN UND TWILIGHT
꿈
└────────────┘
ㅤ
ㅤ
ㅤ

Minhos Morgenroutine besteht aus 8.5 Schritten. Er geht diese jeden Tag in der exakt selben Reihenfolge durch. Nicht etwa, weil er besonders viel Freude daran hat – die, das haben wir bereits etabliert, verspürt er nämlich nicht –, sondern weil es effizient ist. Denn wenn Minho immer dasselbe tut, wird er darin so geschickt, dass er zu keinem Zeitpunkt nachdenken muss.

Die Morgenroutine läuft wie folgt ab: Minho steht auf (1), geht aufs Klo (2), duscht (3), putzt sich in der Dusche die Zähne (3.5), kleidet sich in einem weißen T-Shirt und einer schwarzen Jeans (4.5), kocht Kaffee und löst währenddessen ein Sudoku auf dem Handy (6.5). Er füllt den Kaffee in eine Thermoskanne, packt Schlüssel und Brieftasche ein (7.5) und geht schlussendlich entweder zur Frühschicht im Supermarkt oder zur Spätschicht in der Oper (8.5) (je nachdem welcher Wochentag gerade ist).

Minho muss zu keinem Zeitpunkt in dieser Routine auch nur den Hauch eines Gedankens tätigen. Er macht einfach. Wie ein Roboter-Staubsauger, der putzt, sobald man ihn einschaltet.

Seine Arbeit erledigt Minho gleichermaßen routiniert – wenn auch noch nicht komplett gedankenlos. Er ist sehr gewissenhaft – ohne ein Gewissen zu haben. Manchmal fragt er sich, warum er nicht mordet oder anderes Chaos anrichtet – immerhin juckt es ihn ja nicht, was andere erwarten, denken oder fühlen. Aber im Endeffekt wäre das Morden oder Rauben bloß zeitaufwendig und energieraubend. Und Minho hasst vielleicht nicht, aber er ist sich ziemlich sicher, dass ordentliche Abläufe etwas durch und durch Positives sind. Genau wie die Morgenroutine.

So geht Minho zum Beispiel immer donnerstags um 9:43 Uhr im Biosupermarkt drei Straßen von seiner Wohnung entfernt einkaufen. (Weil Bio gesünder ist und es keinen schlüssigen Grund gibt, warum man sich ungesund ernähren sollte.) Er kauft immer dieselbe Reissorte, dieselbe Nudelsorte und denselben Rotwein ein.

Samstags ist sein Sex-Tag. Für eine Beziehung ist Minho nicht geeignet, dafür sind ihm andere Menschen zu chaotisch und, nun ja, unlogisch, aber sexuelle Bedürfnisse verspürt man selbst dann, wenn man keine Gefühle hat. Es ist etwas wie pissen gehen oder Wasser trinken. Man könnte auch ohne, aber dann wird es sehr schnell sehr unangenehm. Ergo: der Sex-Tag. Minho geht in eine LGBT+ freundliche Großraumdiskothek, benimmt sich so bescheuert wie er nur kann, um sich der Partymasse anzupassen (was schwerer ist, als man denkt) und krallt sich dann die erstbesten Person, um seine körperlichen Triebe zu besänftigen.

Sonntags besucht er das Grab seiner Familie. Er nimmt dafür die Bahn, die ihn an den Stadtrand bringt, kauft einen Strauß weiße Rosen und macht einen Spaziergang durch die Parkanlage, bevor er zu Sektor F, Grabreihe 734, Grab 45, 46, 47, 48, 49 und 50 geht. Seinem Vater legt Minho keine Rose aufs Grab, denn sein Vater hat Blumen nie gemocht. Aber seinen drei Geschwistern und seiner Mutter sowie seiner Großmutter legt er jeweils ein Fünftel des Blumenstraußes hin. Früher hat er seinen Geschwister und seiner Mutter je nur eine gegeben und seiner Großmutter den Rest. Mittlerweile ist er sich jedoch nicht mehr sicher wieso. Rational gesehen ergibt das nämlich keinen Sinn. Die Jugendpsychologin aus dem Waisenheim hat gemeint, es hinge damit zusammen, dass Minhos Großmutter ihn viel gehütet hat, während Minhos Eltern auf der Arbeit waren – aber das ist dermaßen gefühlsduselig, dass Minho es nicht ernst nehmen kann.

Das ist ein weiterer, unschöner Nebeneffekt des Nichtsfühlens: vieles lässt sich nicht ernst nehmen. Weihnachtsballaden über die großen Gefühle am heiligen Fest? Prätentiös ohne Ende. Geburtstagsfeiern? Hiphip-Hurra, unsere Körper verwesen langsam. Instagram-Accounts für Haustiere? Braucht das wirklich noch einen Kommentar? Fakt ist, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn mehr Menschen wie Minho wären.

An einem Sonntag, der dem Namen Sonntag in allen Belangen gerecht wird, setzt sich Minho nach seinem Ausflug auf den Friedhof vor ein Café. Immerhin verbringt er verhältnismäßig viel Zeit drinnen und muss jede Gelegenheit nutzen, um Sonne und Vitamin D zu tanken.

Die Kellnerin – eine klassische Schönheit mit symmetrischen Gesichtszügen und langen Haaren – nimmt seine Bestellung auf, bevor sie wieder verschwindet. Sie wirft ihm dabei einen interessierten Blick zu, aber Minhos Sex-Tag ist gestern gewesen, also geht er nicht darauf ein. Er holt einen Ausdruck des Grundrisses des Opernsaals, in dem er seit knapp zwei Wochen arbeitet, hervor und breitet ihn auf dem kleinen Café-Tisch aus. Während seiner letzten Schichten hat er sich überdurchschnittlich oft verlaufen, also macht er sich jetzt daran, den Grundriss des Gebäudes samt Hintereingänge und Schleichwege auswendig zu lernen. Dabei fällt ihm auf, dass es drei Herrentoiletten mehr als Frauentoiletten gibt und dass die Sitze 130-140 fälschlicherweise zwischen den Sitzen 50 und 51 platziert worden sind.

Um sich etwas Gutes zu tun, nimmt er – wie immer um diese Uhrzeit – den frischen Apfel und das Glas Wasser zu sich. Währenddessen rechnet er zum Zeitvertreib die Fläche des Gebäudes in Quadratmetern aus.

Danach fährt er nach Hause, liest ein paar Kapitel in der Bibel, dem Duden und in Twilight Biss zum Morgengrauen und beschließt, dass er den Hype um keines der Bücher nachvollziehen kann. Danach isst er ein leichtes Abendbrot, wäscht das Gesicht, rasiert sich, putzt die Zähne und legt sich pünktlich um neun Uhr ins Bett, um morgens um vier Uhr fit für die Frühschicht zu sein.

Minho schläft binnen Minuten ein, denn es gibt nichts in seinem Leben, was ihn aus der Fassung bringen könnte.

8321. Minho funktioniert.
ㅤ
ㅤ
ㅤ

꿈

ㅤ
ㅤ
ㅤ