Vincent, Dag und der Abschlussball | Part 2

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Seit Stunden starrte Dag sein Nokia Handy an. Nichts. Keine Regung. Seit Tagen blieb dieses verdammte Gerät stumm. Die Stille war erdrückend.

Langsam wanderte sein Blick zur Uhr. 01:56 Uhr. Die erste Träne lief. Der Blick zurück zum Handy. Nichts.

»Hör auf mich ständig zu küssen! Du siehst doch was du anrichtest man!«

Es tat weh. Nicht nur die Ohrfeige, die er noch bis heute zu spüren glaubte, nein, vor allem die harschen Worte von Vincent schmerzten unendlich.

Wieder einmal bohrte er seine kurzen Fingernägel tief ins Fleisch seines Unterarms. Mit jeder Stunde, die sein Handy stumm blieb, mit jedem abgelehnten Anruf, mit jeder nicht beantworteten SMS wurden die Kratzer und Schrammen auf seinen Armen mehr.

Blut und Tränen vermischten sich auf seiner zerstörten Haut. Das Salz brannte unangenehm in der frischen Wunde.

Pling

Dags Blick schnellte nach oben, als dieser ihm so vertraute Sound ertönte. Das Display war aufgeleuchtet. Nur zwei einfache Worte standen dort.

Vordach. Jetzt.

Sofort wusste er, von wem die Worte kamen und was damit gemeint war. Noch nie hatte er so viel Hoffnung verspürt wie in diesem Moment. Sofort schlossen ihm die wildesten Szenarien durch den Kopf. Würde er ihn anschreien? Schlagen? Küssen?

Sich die letzte Träne wegwischend, stand er auf und zog sich schnell Schuhe und Jacke über, bevor er los rannte. Wie ein Verrückter sprintete er nur bei Mondschein durch die engen Gassen und Schleichwege Spandaus. In jeder anderen Situation hätte er die wunderbare Atmosphäre dieser fast schon magischen Nacht förmlich in sich aufgesogen, doch heute nahm er es nicht einmal wahr. Genauso wenig wie den Streuner Hund Pablo, mit dem er sonst so gerne spielte.
Pablo hob nur müde den Kopf und sah ihm nach. Von Dag war er solche Aktionen gewohnt. Nur meistens war er dabei nicht alleine.

Mit einem ungesunden Stechen in der Lunge kam er einige Minuten später vor der Doppelhaushälfte von Vincents Familie zu stehen. Als er sich gerade bückte, um ein paar Kieselsteinchen zu sammeln, die er ans Fenster werfen wollte, hörte er schon, wie eben dieses geöffnet wurde.

„Kannste dir sparen. Komm hoch."

Es benötigte nur wenige geschickte Handgriffe für Dag, um an einem Stützpfeiler entlang, hinauf auf das Vordach vor Vincents Fenster zu klettern. Zeitgleich stieg selbiger aus dem Fenster und setzte sich hin.

Begleitet von einem sehr unguten Gefühl platzierte Dag sich gegenüber von ihm und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie außer Atem er gerade war. Immerhin vertuschte die Dunkelheit, dass seine Wangen förmlich glühten und seine Augen von heulen - und um ehrlich zu sein auch vom high sein - stark gerötet waren. Alles an seinem Erscheinungsbild war vermutlich erbärmlich. Aber deshalb war er ja schließlich auch nicht hier.

Vincent räusperte sich.

„Wir müssen reden"

„Vincent, es tut mir so leid. Ich-", wollte Dag sich entschuldigen, doch er wurde direkt von dem Jüngeren unterbrochen.

„Nein, du hörst mir jetzt zu!"

Dag zuckte zusammen. Die Worte klangen so unfassbar hart und hasserfüllt. Jetzt war er erst recht froh, dass er sein Gegenüber nicht sehen konnte. Schon wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen und der allerletzte Funken Hoffnung verschwand.

„Wegen deiner scheiße hängen die mir seit Tagen am Arsch. Die tun mir weh, Dag. Seit Tagen. Sie belästigen mich. Die ganze scheiß Zeit. Ist es das, was du wolltest? Findest du das gut?!", Vincents Stimmlage wechselte von harsch, zunehmend zu verzweifelt. Dag konnte so viel Schmerz hören. Und er hatte ja recht. Sie hatten es die letzten Wochen beide nicht leicht gehabt in der Schule. Auch er hatte unzählige blaue Flecken davongetragen. Allerdings hatte er auch weitaus mehr ausgeteilt als sein Kumpel. Und ihn damit nur noch mehr in die scheiße gezogen. Trottel.

„Was, nein?! Ich-", wollte er ansetzen, sich zu verteidigen, doch er wurde direkt unterbrochen.
„Warum machst du es dann?!"

Ja, warum hatte er es getan? Das hatte er sich in den letzten Tagen öfter gefragt. War es nur eine Trotzreaktion? Oder waren da möglicherweise doch Gefühle im Spiel? Echte Gefühle.

„Weil... Naja, ich...", stotterte er. Er wusste es nicht. Oder eher wollte er es sich nicht eingestehen. Denn es tat weh. Alles daran. Auch wenn Vincents Reaktion gerechtfertigt war, verursachte sie ein schmerzhaftes Stechen in seiner Brust.

„Was ist dein scheiß Problem?", setzte sein Freund erbarmungslos nach. Die erste Träne rollte über seine Wange. Er musste sich unheimlich zusammenreißen, um nicht wieder mit den Fingernägeln seinen Arm zu massakrieren.

„Weil ich dich liebe...", sprach er letztendlich flüsternd die Wahrheit aus. Sie wussten es sowieso beide. Jede Lüge wäre zwecklos gewesen. Immer mehr Tränen flossen. Warum war sein Freund auf einmal so kaltherzig?

„Ich dich aber nicht. Ich bin nicht schwul, das weißt du!", erwiederte dieser direkt hart. Und genau in diesem Moment hatte der kleinere das Gefühl, dass in ihm etwas zerbrach. Er hatte es gewusst, und trotzdem brach es ihm einfach nur noch das letzte heile Stückchen Herz. Jetzt war dort einfach nur noch eine verdammt schmerzhafte Leere.

„Ja...", hauchte er kaum hörbar, „Es tut mir leid..."
„Mir auch. Hau ab.", auch Vincent klang unfassbar verletzt, als er ein leises „Für immer." hinterher schob.

So gerne hätte Dag ihm jetzt so vieles gesagt, doch er konnte es nicht. Er war unfähig auch nur irgendwas zu sagen. Wie ferngesteuert stand er auf und stieg das Vordach hinunter. Ein letztes Mal sah er hinauf. Vielleicht täuschten ihn seine Sinne, aber er glaubte, dass sich ihre Blicke kreuzten. Und dann drehte er sich um und rannte los.

Dag rannte. Er sprintete einfach durch die Straßen, unfähig zu verarbeiten, was da gerade eben passiert war. Dafür sehr bewusst darüber. Immer mehr Tränen liefen. Schon bald hatte er das Gefühl, dass er gleich nichts mehr sehen könne, doch er rannte weiter.

Bis er an dem Haus ankam, das er erreichen wollte. So langsam hatte er endgültig das Gefühl, seine Lunge würde gleich kollabieren. Begleitet von einem ungesunden Husten hob er dieses Mal tatsächlich eine Hand voll Kieselsteinchen auf und donnerte sie, entgegen aller Filmklichees, alle gemeinsam an das Fenster.

Ein leises quieken ertönte, bevor sie augenscheinlich aufstand und aus dem Fenster lugte.

„Ich bins nur.", nuschelte Dag leise und winkte leicht. Er machte sich nicht einmal die Mühe seine Tränen wegzuwischen. Selbst im fahlen Laternenlicht würde sie sehen, wie zerstört er gerade aussah.

„Kannst du das nicht machen wie normale Menschen du Trottel?", fluchte sie leise, während sie an der Regenrinne herunter zu ihm kletterte.

Und dann stand sie da. Sie, Antoni, ihre gemeinsame, sehr gute Freundin.

Augenblicklich musterte sie ihn besorgt. Mit einem leisen Seufzen wischte sie ihm behutsam einige Tränen von den Wangen, ehe sie ihn in den Arm nahm.

„Was ist passiert?", flüsterte sie sanft.

Und ohne zu zögern begann Dag zu erzählen. Unterbrochen von unzähligen Schluchzern erzählte er die ganze Geschichte, ohne auch nur ein Detail auszulassen.

Das ist die ganze, tragische Geschichte darüber, warum aus SDP nichts wurde.
Dafür ist es genauso der Anfang einer Geschichte darüber, wie eine wundervolle Freundschaft begann und auch darüber, wie eine ganz andere Band sich gegründet hat. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

Merkt euch nur eines: Wo eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere. Also gebt niemals auf.

Vincent, Dag & der Abschlussball Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt