Prolog

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Es ist dunkel. Die Wellen rauschen und umspülen die mit Algen bewachsenen Felsen. Mit stetigem Rhythmus trifft Wasser auf Gestein.
Ich versuche mir vorzustellen, wie lange es dauert, bis das salzige Wasser das dicke Gestein aufbricht und es in neue Formen kleidet. Hundert Jahre? Tausend? Hunderttausend?
Ein Windstoß greift nah meinen Haaren und wirbelt sie gen Himmel, zerrt an meinem Lieblingsshirt und dem Kimono. Mein noch nasser Bikini fühlt sich kühl auf meiner Haut an.
"Lille!", ertönt plötzlich ein Ruf vom sandigen Ufer des Strandes. Ich öffne meine Augen und aus Dunkelheit wird himmel- und türkisblau. Das Meer erstreckt sich über mein ganzes Sichtfeld und ich fühle mich, als würde ich auf dem Wasser laufen.
Doch dann zieht sich das Wasser zurück und lässt mich auf der harten Oberfläche der Felsen zurück.
Ich setze mich vorsichtig auf und balanciere über das unebene Gestein. Beim letzten Felsbrocken nehme ich Anlauf und springe in den weichen, fast weißen Sand. Dann trabe ich auf den schwachen Schein eines gerade entfachten Lagerfeuers zu, an welchem meine Freunde Platz genommen haben.
"Da bist du ja", ruft Samantha, beste Freundin und nicht biologische Schwester. Sie legt mir einen Arm um die Schulter und zwingt mich somit, sich neben sie in den Sand zu setzen.
"Was gibt's?", frage ich.
"Wir wollen uns den Sonnenuntergang anschauen", antwortet Noah, ein mittelgroßer, mit süßen Hundeaugen und Stupsnase versehener Junge. Er ist der Mensch mit dem größten Herz, den ich kenne.
"Alle zusammen!", ergänzt Samantha gröhlend. Ihre tiefe Stimme passt makellos zu ihrem selbstbewussten Auftreten. "Und dazu gibt es Marshmallows!"
"Ok, Sammy, beruhig dich", lacht der blonde, perfekt proportionierte Calvin, seinerseits Kapitän der Schwimmmannschaft unserer Schule und Samanthas Freund. Er setzt sich neben sie und wuschelt ihr durch die Haare, was eine wilde Rangelei zur Folge hat. Ich rutsche langsam von ihnen ab und nehme einen Spieß mit aufgestecktem Marshmallow entgegen, den mir Sasha reicht. Sasha ist wegen der Arbeit seiner Mutter von Russland nach England gezogen und es hat nicht lange gedauert bis er ein fester Bestandteil unseres Kreises wurde.
"Leute, ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist", sagt Jeremy. "Dies hier ist ein Privatstrand und er war abgeschlossen, als wir über den Zaun geklettert sind. Alles Zeichen dafür, dass wir hier eine Straftat begehen." Missbilligend schaut er mich durch die Flammen an. "Und Lagerfeuer sind nirgendwo am Strand erlaubt."
"Jeremy, Sweetheart, wir haben es verstanden", winkt Sammy ab, ein bisschen atemlos vom Rangeln.
"Genau, Mommy, entspann dich", bekräftigt Calvin.
Jeremy rümpft nur sehr schwul die Nase und vergräbt seine Füße im Sand. Seitdem er sich vor ein paar Jahren geoutet hat, bekam unser Spitzname "Mommy" einen tieferen Sinn.
"Okay, es geht lohooos!", schreit eine kleine Gestalt, die bis zu den Waden im warmen Wasser steht. Liv, unser Küken.
Und in genau dem Moment, in dem ich zu Liv aufschaue, tut sich vor mir das Schönste auf, was ich jemals gesehen habe: der Himmel färbt sich purpurrot, lila, gelb, orange und mündet in einen scharlachroten Ball - die Sonne. Der bunte Himmel spiegelt sich auf dem Wasser und lässt dabei die undenkbarsten Farben entstehen.
Während ich wie gebannt dasitze, holen alle ihre Smartphones raus und machen Landschaftsfotos und Selfies. Alle wirken ausgelassen und glücklich, rufen sich gegenseitig etwas zu und lachen.
Als die Sonne untergeht, setzen sich alle wieder ans Feuer.

Wir feiern noch bis spät in die Nacht, und beim ersten Lichtstrahl der aufgehenden Sonne machen wir uns wieder auf und schleichen zurück ins Hotel.
Bevor ich über den Zaun klettere, schaue ich noch einmal zurück und verabschiede mich, auch wenn ich noch nicht gehen möchte. Ich bin einfach noch nicht soweit.
Aber dem Leben ist es egal, wie weit du bist oder ob es dir gerade gefällt, wo du bist.
Es geht weiter und nimmt dich mit. Ohne zu fragen.

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