Eins

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"Wie lange dauert das noch?", fragt mich Sammy. Sie ist kalkweiß und umklammert eine Spucktüte.
Ich schaue auf mein Handydisplay. "Knapp eine Stunde. Das schaffst du."
"Klar schaffe ich das. Mit Spucken und überzogenen Toilettengängen und-"
"Sammy, es wird alles gut. Lehn dich zurück und entspann dich", nuschelt Liv unter ihrer Schlafmaske. Keine Ahnung, wozu sie das Ding braucht, schlafen tut sie sowieso nicht.
Sammy wirft ihr einen vernichtenden Blick a la "du-weißt-doch-überhaupt-nicht-wie-das-ist" zu, sagt aber nichts mehr. Wahrscheinlich würde sie beim nächsten Mal, wenn sie den Mund aufmacht, ihr Frühstück loswerden.
Ich nehme mir wieder meine Kopfhörer und starre mit einem Seufzen aus dem Fenster. Ich liebe Sammy, aber ich bin einfach nicht der Typ Mensch, der Leute gut trösten und beruhigen kann. Calvin anscheinend auch nicht, denn irgendwie hatte er es geschafft, Sammy neben mich zu setzen, ohne dass sie sich von ihm verstoßen fühlt. Was bei ihr sehr schnell passieren kann, denn seit ihre Mutter ihren Vater in einer Nacht und Nebel Aktion verlassen hatte, kann man bei Sammy definitiv von einem "Mutterkomplex" reden, auch wenn sie es dementiert.
Weiße, wie Watte aussehende Wolken ziehen unter uns vorbei und versperren die Sicht auf das tief unter uns gelegene Land.
Fliegen war schon immer eine große Leidenschaft von mir. Mein Vater ist Mitglied in einem Flugverein und besitzt auch eine eigene Maschine, mit der wir schon viel erlebt haben und dieses Jahr habe ich angefangen, meinen Flugschein zu machen. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich alleine in meiner Cessna die ganze Welt bereisen kann.
Doch zuerst muss ich diesen Flug überleben, ohne mit irgendwelchen Körperinhalten in Berührung zu kommen.
"Lille, ich glaube, ich schaff's nicht mehr...", flüstert Sammy zwischen zusammengepressten Lippen.
Liv hebt ihre Schlafmaske an und schaut Sammy missbilligend an. "Na gut, Spuckhase, ich begleite dich." Sie hakt sich bei Sammy unter, stellt sie auf die Beine und zieht sie Richtung Toilette.
Ich folge ihnen mit den Augen und wundere mich zum vielleicht tausendsten Mal, wie sehr Livs zierliches und unschuldiges Aussehen über ihr wahres Ich hinwegtäuscht. Ich vermute zwar immer noch, dass ihr hartes und kaltes Auftreten nur Fassade ist, aber was sich unter dieser Schale befindet, das weiß niemand. Somit hat sie sich definitiv zu einem der begehrtesten Mädchen der Schule gemausert, denn Jungs beißen sich nicht nur an ihrer harten Schale die Zähne aus, auch ihre Schönheit verdreht allen reihenweise den Kopf.
Eine besorgt aussehende Stewardess kommt an mir vorbei und steuert auf die Toilette zu, in der vorhin Sammy und Liv verschwunden sind. Sie klopft ein paar Mal an die Tür und wartet eine Weile, bis Sammy die Tür aufmacht und sich mit zunehmend grünlich aussehendem Gesicht mit ihr unterhält. Liv zwängt sich zwischen dem Türrahmen und Sammy hindurch und beobachtet stumm die Unterhaltung.
Ich denke mir nichts dabei. Wahrscheinlich dachte die Crew, dass sie ein lesbisches Pärchen sind und sich in der Toilette "vergnügen" wollten. Gerade als ich mich wieder dem Fenster zuwenden will, höre ich ein würgendes Geräusch und ein kurzes Quietschen, was wohl die Stewardess von sich gegeben hatte, als Sammys Mageninhalt auf der perfekten Uniform landet. Und Livs Lachen, das durch das ganze Abteil schallt.

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