1 Nicht nur im Himmel gibt es Engel

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PoV: Rezo

Ein sanfter Wind streicht mir durch meine Haare und ich sauge förmlich den Duft dieses wundervollen Platzes ein. Und, wenn auch verschwommen, sehe ich sie immer noch vor meinem inneren Auge. Hier verbrachten wir oft Zeit, wenn unsere Eltern nicht da waren und wir waren oft in dem See dort drüben schwimmen gewesen, haben die Enten gefüttert und spät Abends die Sterne von hier unten beobachtet.
Trauer durchfährt mich. Dies alles konnte ich nun nicht mehr erleben. Meine geliebte Schwester, mein Anker, ist für immer weg. Fort, als hätte sie nie existiert. Über unserem gemeinsamen Lieblingsort tauchen nun dunkle, bedrohliche Wolken auf. Ein unfassbar feindliches bedrängendes Gefühl breitet sich in mir aus.
Es war Hass.
Der Hass, den ich gegen mich selbst verspürte. Ich hätte bei ihr sein können, sie öfter besuchen können, so wie sie es getan hätte. Aber nein, hatte ich natürlich nicht! Hätte mich vielleicht nicht so abhängig von meiner Arbeit machen dürfen und das Schlimmste ist, nun kann ich ihr nicht mehr sagen, wie unfassbar lieb ich sie habe.
Aus den Wolken schossen wie wild Blitze. In wenigen Sekunden überschwemmt der See durch die Mängen an Regen, die soeben vom Himmel herab geschossen kommen. Mit all meiner Kraft renne ich, renne, so schnell ich nur kann. Doch meine Schuhe werden nasser und zuletzt überflutet mich die Trauer.
Mein letzter Gedanke: Sie ist weg...für immer.

Nass geschwitzt schrecke ich auf. Erst jetzt, als meine Augen langsam durch das Zimmer schweifen realisiere ich, wo ich bin. Kurzer Blick aufs Handy. 3:32 Uhr, na super. Und schon wieder eine mehr oder weniger schlaflose Nacht. Seit etwas mehr als drei Wochen, seitdem meine Schwester an Krebs starb, schlafe ich fasst kaum noch. Alles und jeder erinnert mich an sie, ich kann nicht mal mehr Videos für Youtube drehen, ohne zwischendurch in Tränenausbrüchen zu versinken. Viele meiner Freunde und sogar den Zuschauern fällt das auf und jeden Tag werden mir hunderte DMs geschickt, wieso ich so traurig sei und warum in letzter Zeit meine Stimmung so mies ist. Doch sagen kann ich es meiner Community nicht...Es ist einfach irgendwie nicht das richtige, vorallem für sie.
Da ich jetzt save kein Auge mehr zubekommen werde gehe ich auf Youtube und sehe mir irgendwelche random Videos an.

Es ist nun etwa 5, da bemerke ich ein Video, welches den Titel trägt: Zu wenig Zeit
Mit jeder Line fühle ich sie näher bei mir und als der Refrain das zweite Mal kommt, singe ich ein wenig mit...

Zu wenig Zeit,

Die Geschichte mit dir war zu kurz,

Bin nicht bereit,

Wollt' doch noch mit dir nach Singapur.

Zu wenig Zeit,

Drehe sie zurück an meiner Uhr,

Sag' mir wie's geht,

Gibt es nen Weg?

Mitlerweile sammeln sich mehr und mehr Tränen in meinen Augenwinkeln. Dieses Lied, es zieht mich einfach in den Bann. Ich sehne mich nach ihr und der Verlust meiner großen Schwester, die immer mit mir über meine Probleme gesprochen hatte, der ich blind vertrauen konnte...er war so unfassbar groß.
Also breche ich verweint auf dem Boden zusammen, kann keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Als wäre das Lied dazu bestimmt gewesen, mich so zu packen.

Ein Schrei

Und mir bleibt die Luft weg.
Soeben purzelt aus meiner Wand mit lautem Geschrei ein dunkelhaariger Mann. Durch den Tränenschleier sehe ich, dass er viele Tattoos hat und mich überascht und zugleich bedauernt anguckt. Was will der von mir? Wo kommt der her? Bin ich wahnsinnig geworden?
Wahrscheinlich ja.
Immer noch nicht in der Lage aufzustehen, sitze ich verheult auf dem Boden. Sollen meine wierden Hirngespinste doch machen, was sie wollen, mir ist eh alles nur noch egal.
,,Äh, alles in Ordnung?"
Oh, Wahnsinn, jetzt redet diese Illusion auch noch mit mir. Soll sie doch gehen.
,, Offensichtlich nicht" zische ich leise.
Doch, statt das der etwas asiatisch aussehende Typ nun beleidigt, wohin auch immer abdampft, kniet er sich immer noch etwas verwirrt zu mir.
,,Sorry für die dumme Frage...Ich bin Julien, du?"
Ich schaue durch den Tränenschleier in seine dunklen Augen. Ein gewisses Gefühl von Geborgenheit umhüllt mich und ich zwinge mich, trotz meiner brüchigen Stimme zu antworten.
,,Rezo...Meine...Meine Schwerster..."
Weiter kam ich nicht, sondern bekam wieder einen Heulkrampf.

Juzo StoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt