Spuk in Leap Castle - Herr erbarm Dich unser

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Lillian starrte den Berg mit seinen saftig grünen Wiesen hinauf. Die Sonne war untergegangen und die Dunkelheit kroch über das Land. Dennoch zeichnete sich die Silhouette der Burg wie ein scharfkantiger Scherenschnitt gegen den grauen Dämmerhimmel ab: Leap Castle. Noch immer imposant. Trotz seines Alters und seiner Schäden. Wie jedes Mal hielt sie kurz inne, um den Anblick zu genießen. Kurz hielt sie ihr Handy hoch, um das Bild mit einem kleinen Schnappschuss einzufangen. Vielleicht könnte sie es später auf Instagram stellen.

„Lillian? Lillian? Hast du mich gehört?", bellte es ungeduldig aus den Sprechern ihres Smartphones. „Bist du sicher, dass ich nicht kommen soll?"

Die Angesprochene seufzte genervt und nahm das Telefon wieder ans Ohr, um die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen. „Damit es deine beschissene Aura frisst und richtig gefährlich wird? Danke. Ich verzichte. Ich krieg das hin. Hab ich die letzten Male auch."
„Aber ich finde, du-"

„Ey, Raik! Mach. Urlaub", zischte Lillian wütend. Als wäre er eine Glucke und sie ein verfluchtes Küken. „Lass mich meinen Job machen. Was soll er tun? Ich bin schon tot."

Daraufhin antwortete ihr Schweigen. Dann ein Seufzen. Im nächsten Moment war die Leitung tot. Raik hatte aufgelegt.

„Elender Hund", murrte die Vampirin und steckte ihr Handy weg, ehe ihr Blick erneut zu dem Gemäuer glitt. Sie stockte. Da war ein Licht angegangen. Da war jemand im Schloss.

Das war nicht gut.

Lillian starrte hinüber zu den erleuchteten Fenstern. Fokussierte sie so sehr, dass sie vor ihren Augen zu stechend hellen Sternen verschwammen und ein leises Pochen sich durch ihre Stirn zog. Dreck. Sie hörte nichts. Sah nichts. Roch nichts.

Unruhig drehte sie den Ring an ihrem Finger. Er verkrüppelte ihre Sinne. Doch er brachte auch einen unleugbaren Vorteil: Er verlieh ihr eine künstliche Aura, was ihren Hunger stillte. Sie „menschlicher" machte. Und trotzdem wollte sie ihn gerade einfach nur loswerden. Doch das war ihr nur im Einsatz und in Notfällen gestattet. Und im Moment galt weder das Eine noch das Andere. Also raffte sich die Vampirin auf und ging auf die Burg zu. Da wartete ein Job auf sie.
Im Schutze der dunkler werdenden Schatten schlug sie einen Bogen um den renovierten Teil des Schlosses, mit seinen hell leuchtenden Fenstern und näherte sich den verfallenen Mauern. Trotz all der Jahre schien Lillian der Geruch nach Asche und Verwesung allgegenwärtig in der Luft zu hängen – doch wahrscheinlich waren es nur ihre Erinnerungen an den Brand von 1922.

In einer unangenehmen Übersprungshandlung, fuhr sich die Vampirin über die Arme. Noch immer spürte sie die Hitze auf der Haut und die Flammen, die sich genauso mühelos durch ihre Haare fraßen wie durch die Wandteppiche, die Massivholzmöbel, die Bücher. Alles hatte wie Zunder gebrannt, so verheerend, dass auch Jahrzehnte später nur Geister in den alten Mauern gelebt hatten. Bis vor etwa 40 Jahren die Besitzer gewechselt hatten. Nun versuchte der neue Herr, die Burg Stück für Stück zu restaurieren. Der eine Flügel war mittlerweile sogar wieder bewohnbar.

Und der Andere ... Nun, der war Lillians Ziel. Unruhig befeuchtete sie ihre Lippen, damit sie sich nicht mehr so heiß anfühlten. Die Vergangenheit war vorbei. Nur Geister konnten nicht loslassen. Apropos Geister. „Hallo?", rief sie leise in das verlassene Gemäuer herein. „Emily? Charlotte?"

Hinter sich hörte sie ein Kichern. „Such uns doch. Such uns doch. Na-nana-nana-na!"

Ein Lächeln schlich auf Lillians Gesicht. „Hmmmm ... seid ihr ... hier?"

Demonstrativ fuhr sie herum und schaute hinter einer einsamen Steinsäule. Natürlich war hier niemand. Aber ihre Bemühung wurde mit einem Kichern belohnt, das die Luft um sie herum erfüllte, dicht gefolgt von dem Getrappel kleiner Füße auf hölzernen Fußboden, direkt über ihr. Nur, dass es hier seit dem Brand keine Holzfußböden mehr gab. Nicht einmal ein zweites Geschoss. Oder ein Dach. Trotzdem hörte Lillian eine nicht mehr existente Tür in ein nicht mehr existentes Schloss fallen. Dann wieder Stille.

„Vielleicht seid ihr auch in der Dachkammer?!", rief die Vampirin und blieb am Fuße einer Treppe stehen, die nach drei Stufen endete. Trotzdem starrte sie nach oben, als wäre da mehr als der wolkige Dämmerungshimmel.

Lillian seufzte. Mit Geistern in der physischen Welt Verstecken zu spielen, war aussichtslos, sobald sie ernst machten. Wie sollte Lillian ihnen auch in ihre Wahrnehmung folgen? Geister hingen in ihrer Zeit fest. Während sich die Welt für Sterbliche weiter drehte und veränderte, blieben Geister ewig in der Vergangenheit, wie sie zum Zeitpunkt ihres Todes war. Diese Mädchen wussten nichts von dem Feuer. Für sie würde Leap Castle immer sein, wie es gewesen war, als sie hier lebten. Vor dem Feuer, vor den Umbaumaßnahmen. Für sie würde es immer Türen geben, wo keine mehr waren. Und Räume, wo und heute nur Staub und Geröll übrig war.
„Ne soyez pas en colère, Madame", wisperte eine leise Stimme neben Lillian. „Sie freuen sich, dass Ihr uns mit einem Besuch beehrt."

Lillian sah nach rechts und bemerkte, dass sie nicht länger allein war.

Die ältere Frau war nicht besonders groß, doch wie immer verlangte deren gerade Haltung und der strenge Zug ihrer Mundwinkel Lillian Respekt ab. Trotz ihrer Hosen, fiel die Vampirin in einen höflichen Knicks. „Mademoiselle Vallet. Grämt Euch nicht. Ich freue mich, die beiden zu sehen", erwiderte die Vampirin in ihrem besten, zugegebenermaßen ziemlich eingerosteten Französisch.

„Ich nehme trotzdem an, dass Ihr nicht zum Vergnügen hier seid?" Der Satz war neutral formuliert und doch meinte Lillian einen Hauch von Vorwurf zu hören. Im Gegensatz zu den meisten anderen Geistern war Mademoseille Vallet sich des Verstreichens der Zeit durchaus bewusst. Die Gouvernante war im Leben ein Medium mit Zugang zur spirituellen Welt gewesen – ein Umstand, der ihr Mitte des 19. Jahrhunderts einige Probleme bereitete. Im Tod war sie nun ein Geist mit Zugang zur physischen Welt und in der Lage, die Veränderungen um sich herum wahrzunehmen.

„Touché, Mademoseille Vallet. Doch so gern ich bleiben würde – heute bin ich hier, weil ihr den Orden gerufen habt. Ihr sagtet, dass Es sich regt."

Der Geist der Gouvernante verfiel erneut in einen tiefen Knicks, den Lillian trotz aller Übung niemals nachahmen könnte. „In der Tat. Der alte Mann hat Es wieder gespürt."

Es. Der Elementar, den Lady Mildred einst trotz aller Warnungen beschworen hatte – weil sie unbedingt einen besitzen wollte. Als wäre es ein Haushund.

Das darauffolgende Chaos hatte nicht nur den Brand verursacht, sondern Lillian auch alles abverlangt, dieses Scheiß-Vieh wieder dahin zu sperren, wo es hingehörte: Irgendwo in das Nichts zwischen der spirituellen Geisterwelt und der physischen Realität. Und nun schickte der Orden die Vampirin, wann immer Mademoiselle Vallet ihn darüber informierte, dass der Gefangene wieder zu sehr an seinen Gitterstäben rüttelte.

Denn während der alte Mann in der Haupthalle der einzige anwesende Geist war, der die Erstarkung des Elementars spüren konnte, war die Gouvernante der einzige Geist in Leap Castle mit genug Verbindung zur physischen Welt, um den Orden alarmieren zu können.
Die beiden Geister bildeten die Grundpfeiler zum Schutz dieses Ortes – und waren ein Paradebeispiel für die Warnsyteme, die die Wächter dieser Welt seit Jahrhunderten dort etablierten, wo den Menschen Gefahr drohte. Und nun war Lillian hier, um sich zu kümmern. Nur gab es einen Haken: „Wir sind nicht allein, n'est-ce pas?"

„Non, Madame Lillian", bestätigte die Gouvernante. „Wir versuchten, Monsieur daran zu erinnern, das Schloss heute unbeaufsichtigt zu lassen. Aber er ignorierte unsere Warnungen. Vermutlich bezahlen les jeunes genug, dass er die Vernunft überhört."

Die Vampirin seufzte. „Es wird schon gehen. Was wollen sie hier?"

„Sie sind eine weitere Gruppe von Geisterjägern."

Wieder ein Seufzen. „Herr erbarm dich unser."


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