6: Alleine mit ihm

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Es war Abend geworden und Channa spazierte am Außengelände entlang. Eigentlich sollte sie längst in ihrem Zimmer sein, um ihre Medikamente einzunehmen, aber sie hatte keine Lust dazu. Jeden Abend gab es die selbe Prozedur und jeden Abend hasste sie es mehr und mehr. Was würde sie dafür geben, einfach gesund zu sein?
Als sie so lief und die warme Abendluft einatmete, bemerkte sie nicht, wie ihr jemand unauffällig folgte. Doch plötzlich stand eine große Gestalt vor ihr und sie schrie aus vollem Hals.
"Ruhig, ruhig! Du alarmierst noch die ganzen Leute!"
Ein großer Mann, mit breiten Schultern und blonden Haaren stand vor ihr und hielt ihr den Mund zu.
Es war Erwin, ihr Bruder. Erleichtert atmete sie aus und er entfernte seine Hand von ihrem Mund.
"Erwin! Hast du mich erschreckt.", sagte sie, immer noch den Atem regulierend.
"Tut mir leid, ich wollte etwas feinfühliger an die Sache heran gehen.", er lachte und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
Sie lächelte ihn an und spielte nervös mit ihren Haaren.
"Es ist schön dich zu sehen, Bruder. Bleibst du diesmal?", fragte sie zurückhaltend und beide setzten sich in Bewegung.
"Nun ja... Ich bleibe fürs Erste, sagen wir es Mal so. Wie ist es dir ergangen? Waren alle nett zu dir?"
Beide liefen nebeneinander her und spazierten entlang eines kleinen Weges, der um das Hauptquartier herum verlief.
"Es ist schön, alle sind nett zu mir. Nur meinen Bruder hab ich sehr vermisst. Ich wollte unbedingt etwas Zeit mit dir verbringen, dich kennen lernen."
"Das tut mir leid... Das war einfach ein schreckliches timing, dass du gekommen bist. Wir stehen kurz vor einem großen Durchbruch. Dazu muss ich oft in die Stadt.", versuchte er sich zu rechtfertigen, doch sie schüttelte nur verständnisvoll den Kopf. "Du bist ein wichtiger Mann, deine Arbeit geht vor.", stellte sie richtig und er seufzte.
"Nein! Ich möchte mir Zeit für dich nehmen. Da wir ja auch sonst keine Familie mehr haben, bleiben nur noch wir beide. Wir müssen auf einander acht geben."
"Das tust du bereits! Ich habe es hier wirklich gut. Gutes Essen, nette Leute und ein warmes Bett. Mehr wünsche ich mir nicht, für mein Leben. Danke Erwin."
"Aber aber! Das ist selbstverständlich. Ich wünschte ich hätte früher von deiner Existenz gewusst. Dann hätte ich dich schon vorher geholt!"
Jetzt waren sie bereits schon einmal um das Gebäude gelaufen und standen vor dem Eingang. Sie sahen sich an und lächelten.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich einen Bruder hab! Das macht mich sehr glücklich.", sagte sie und strich sich schüchtern eine Strähne hinter das Ohr.
Erwin nickte zustimmend. "Wenn ich dich so ansehen, kann ich unsere Mutter sehen. Das ist wirklich faszinierend! Du siehst ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich!"
Channa errötete und lächelte dann noch breiter.
"Danke! Das freut mich. Mama war eine schöne Frau."
"Das war sie!"
Plötzlich ging die Tür auf und beide zuckten heftig zusammen.
"Sorry, dass ich eure kleine Wiedervereinigung störe, aber ich müsste Mal eben mit dir sprechen Erwin."
Levi stand jetzt vor den Beiden und sah Erwin eindringlich an. Dabei wanderte sein Blick kurz unauffällig zu Channa herüber. Das bemerkt sie sofort, da ihre Augen an Levis Gesicht fest klebten. Als er es bemerkte wurde sie rot und sah in eine andere Richtung.
"Wir reden gleich, Levi. Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen, bevor wir uns treffen können. Würdest du mir den Gefallen tun und währenddessen ein bisschen Zeit mit meiner Schwester verbringen? Ich möchte nicht, dass sie so alleine hier herum läuft.", sagte Erwin, wobei Levi gerade protestieren wollte. Bevor er dazu kam, war der große Mann schon verschwunden.
Levi seufzte kurz und sah dann zu Channa.
"Und jetzt?", fragte er und sie zuckte mit den Schultern.
"Warum muss ich Babysitter für dich spielen?"
"Denkst du mich hat jemand gefragt?"
Sie drückte sich an ihm vorbei in den Gang des Hqs und lief dann geradewegs in die Bibliothek.
"Oi! Warte mal, du Giftzwerg. was machst du?", er lief ihr genervt hinterher und zog die Brauen hoch, als sie sich ein Buch schnappte.
"Ich will was lesen. Komm, setzt dich zu mir. Wir lesen gemeinsam.", sagte sie und ließ sich grinsend in einen Sessel fallen.
"Ich hab keine Zeit zu lesen.", sagte er knapp und drehte sich weg. "Warte! Hier! Das Buch wird dir gefallen!", sie stand auf und reichte ihm ein Buch. Es war ein Buch über Kräuter aus denen man Tee machen konnte. Er sah das Buch an, dann sah er zu ihr, Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben.
"Ich hab gehört, dass du Tee magst."
Sie lief zurück zu dem Sessel und setzte sich. Er legte das Buch auf einen Tisch neben sich und verschränkte die Arme.
"Versuch es doch wenigstens Mal! Jeder braucht ein Hobby, um Mal runter zu kommen.", versuchte sie ihn zu überzeugen, doch er sah sie weiterhin stumm an. Sie stand auf und kam auf ihn zu. Als sie ihn erreicht hatte, nahm sie ihn bei einer Hand und zog ihn zu einem weiteren Sessel. Mit aller Kraft versuchte sie ihn zum Sitzen zu bewegen, doch er dachte gar nicht daran.
"Jetzt komm schon, sei doch nicht so stur!"
"Erwin kommt jeden Moment zurück, ich hab keine Zeit für deine dummen Spielchen!", motzte er sie an, doch sie ließ nicht locker.
"Levi.", sagte sie sanft und sah ihm tief in die Augen. "Bitte."
Mit einem genervten "Tch.." ließ er sich dann doch in den Sessel fallen. Doch seine Miene war alles Andere als heiter.
Sie gab ihm das Buch in die Hand und mit einem lauten, genervten Seufzter schlug er es auf und blätterte darin herum.
Channa triumphierte innerlich und lächelte breit, dann schob sie ihren Sessel zu seinem und ließ sich auch in ihn fallen.

~~~~~~~~~

Es waren bereits zwanzig Minuten vergangen, in denen sich Levi tatsächlich so in das Buch vertiefte, dass er nicht Mal bemerkte, wie ihm jemand eine Tasse Tee auf den Beistelltisch stellte. Er sah von seinem Buch auf und bemerkte Channa, die sich gerade auch einen Tee eingoss.
Sie ließ sich wieder auf ihren Sitz nieder und lächelte ihn an, bevor sie sich ihrem Buch widmete. Levi nahm den Tee skeptisch in die Hand und schwenkte ihn in der Tasse etwas hin und her, bevor er ein bisschen davon probierte. Überrascht über den Geschmack, nahm er gleich noch einen großen Schluck.
Channa schielte immer wieder zu ihm herüber, er bemerkte wie ihre Augen auf ihm ruhen.
"Brauchst du irgendwas?", er sah zu ihr, wobei sie augenblicklich weg schaute.
"E-Entschuldige. Ich hatte mich nur etwas gefragt..", murmelte sie verlegen und räusperte sich dann.
"Das wäre?", seine Stimme klang rau und trocken, doch irgendwie anziehend.
Channa klappte ihr Buch zusammen und legte es neben sich auf den Tisch, dann nahm sie einen schluck ihres Tees.
"Nun ja.. wie war es so, im Untergrund zu leben? Ich stell mir das sehr trostlos vor."
"Warum willst du das wissen?"
Auch Levi legte sein Buch zur Seite und schlug seine Beine übereinander.
"Ich weiß es nicht. Es interessiert mich eben. Ich war noch nie dort. Ich kannte auch nie einen von dort. Sind dort alle so wie du?"
Er sah sie eindringlich an.
"Was meinst du 'so wie ich'?"
Sie stand auf, um sich neuen Tee einzuschänken.
"Naja, so stark und gebildet.. Man stellt sich Leute aus dem Untergrund irgendwie anders vor."
Dann setzte sie sich wieder hin.
"Hast du auch ein Gehirn, dass du von Mal zu Mal nutzt?", fragte er trocken und sie verschluckte sich fast an ihrem Tee. Laut hustend schnappte sie nach Luft.
"Okay, das war wohl der Beweis, dass du aus dem Untergrund kommst."
Er sah sie mit zugekniffenen Augen an und zischte: "Was soll dass jetzt wieder bedeuten?"
"Du hast ein ziemlich scharfes Mundwerk."
"Das hat nichts mit dem Untergrund zu tun, sondern dass du mir einfach auf die Nerven gehst mit deiner Fragerei.", gab er zurück und sie grinste.
"Es macht Spaß, dich zu nerven."
"Es wird dir kein Spaß mehr machen, wenn ich dich Überkopf aus dem Fenster hängen lasse.", drohte er, doch sie begann zu kichern.
Er stand auf und packte sie am Handgelenk. Dann zog er sie hoch und sah ihr in die Augen. Sie verstummte und ihre Wangen wurden rot.
"Du denkst, weil du ein Mädchen bist und Erwins Schwester, kommst du mit allem davon? Ich würde aufpassen, an deiner Stelle.", hauchte er und seine eiskalten, grauen Augen durchbohrten sie.
Sie verharrte und starrte ihn ebenfalls an. Ihr Herz schlug laut und ihr Atem stockte.
"Kein Grund so nervös zu werden.", flüsterte er und zog sie noch ein Stück näher zu sich.
Ihre Augen wanderten von seinen Augen, zu seinen Lippen und wieder zurück.

Just one reason to live //Levi Ackermann Ff\\Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt