Kapitel 1

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Vorsichtig blickte ich mich um. In dem Briefumschlag war nicht mehr als ein Schlüssel und eine Nummer. Nun achtete ich darauf, unauffällig in das Zimmer zu gelangen. Das Haus war von außen nur spärlich beschienen. Deswegen bemühte ich mich, meine besten Agentenkenntnisse anzuwenden. Kenntnisse, die ich mir durch Filme und Serien angeeignet habe. Und dann in der Praxis erprobt. Das eine Mal mit dem Entwenden des Handys. Miara gab mir ihr Handy. Ich sollte die Einstellung überprüfen, weil es nicht mehr gescheit lud. Daraufhin kopierte ich die Daten. Ein anderes Mal ließ ich das Handy einer Passantin auf den Boden fallen oder am Strand ins Wasser. Mit der Zeit entwickelte ich so meine Methoden. Methoden, die ich nun anzuwenden gedachte, da ich ein Agent werden würde. Die Chance bekommen hatte, einer zu werden. Und diese würde ich auch nutzen. 

  ☮

 Die alte Holztür lag schwer in den Angeln und knarzte, als ich sie öffnete. Der ungewohnte Duft nach Lavendel lag in der Luft. Ich blieb stehen und atmete tief durch. Dann orientierte ich mich am Duft. Nur spärlich fiel das wenige Licht in den Raum.

Der Lavendelduft führte mich in einen Raum, der einem Esszimmer glich. In der Vase auf dem Holztisch stand ein Lavendelstrauß. Darunter lag ein mit Wachs versiegelter Brief.

Aus dem Wandregal entwand ich eine Streichholzschachtel. Mit einem Papier und Druckbleistiften fuhr ich über das Siegel, bevor ich es mit Hilfe von einem Streichholz leicht anwärmte und in seinen geschmeidigen Zustand zurückversetze. Darauf bedacht, nichts kaputt zu machen und keinen Hinweis auf mich zu hinterlassen, öffnete ich den Brief sachte. Die in Tinte getauchten Buchstaben sprangen mir entgegen und die schwungvolle Schrift wirkte kunstvoll. Verzierte Bögen. Vereinzelte Ambigramme. Ich drehte den Brief um und las nur die Wörter, die mir jetzt noch entgegen sprangen. Im Kopf notierte ich mir diese. Dann las ich den Brief und ging zum beschriebenen Schrank. Im Salz steckte ein unscheinbar wirkender Zettel und hinter einem Trapez aus Kühlschrankmagneten verbarg sich ein Foto. Vorsichtig entfaltete ich den Zettel und studierte ihn. Dann betrachtete ich das Foto und prägte mir das noch so kleinste Detail ein.

Auf der Rückseite waren ein Datum und eine Bildunterschrift vermerkt. Ich nahm sowohl den Zettel als auch das Foto an mich und begab mich auf die Suche nach weiteren Hinweisen, während ich über die Worte nachdachte, die im Brief geschrieben standen.

Verteidige die Freiheit.

Ehre ihre Bewahrer.Durchschaue die Irrwege.Erkenne die Wahrheit.

In der richtigen Reihenfolge gelesen, ergaben die Ambigramme diese Botschaft. Doch oblag mir ihr Sinn noch fern. Wenn dieser Schlüssel, der in dem Umschlag auf meinem Wohnungstisch lag, nicht der Zimmerschlüssel zu dieser Wohnung war, dann musste es etwas Anderes geben, wozu er passte. Und ehe ich dies nicht entdeckt hatte, konnte ich unmöglich von hier weggehen. Ehe ich mich aber auf den Weg in die anderen Zimmer begab, versiegelte ich den Umschlag und ging sicher, dass bis auf die Entnahme des Bildes und des Zettels nichts auf meine Anwesenheit hinwies.

Meine Armbanduhr tickte als ich sie mit meinen Fingerspitzen zweimal im Abstand von exakt sieben Sekunden berührte. Sieben Sekunden, weil die meisten Menschen instinktiv zu fünf oder fünfzehn Sekunden tendierten. Sieben Sekunden, damit ich sichergehen konnte, dass ich die Entscheidung bewusst getroffen hatte. Ein kurzer Blick genügte, um die Nachtsicht zu aktivieren. Jegliches grelle Licht wurde vermieden. Jedoch schenkte sie mir genug Licht, um mich auch im Dunkeln ohne Probleme zurechtfinden zu können. Diese Uhr war eines der größten Geheimnisse, die ich mit Othniel, Veysi, Sayat und Issur teilte. Eines, was von der Mechanik und der Physik der Welt war und von Othniel stammte. Nur wir fünf wussten davon und wussten, wie diese Uhr zu bedienen war. Diese Uhr entstammte dem Ansinnen uns jederzeit treffen zu können und wurde bald drauf viel mehr als das.

Mittlerweile gehörte sie zu meinem wertvollsten Besitz. Einen Besitz, den ich überallhin mitnehmen würde und niemand anderem anvertraute. Das Risiko entdeckt zu werden, war viel zu hoch. Im äußersten Notfall war die Uhr sogar dazu im Stande mein Leben retten zu können. Wir schworen uns, niemanden, der nicht zu uns gehörte, zu verraten, wie sie funktionierte und wie wir sie als normale Uhren tarnen konnten. Othniel verlieh ihr den Glanz einer abgetragenen Uhr und gegenüber Fremden, die mich auf sie ansprachen, gab ich vor, dass sie ein Familienerbstück war. Keiner von uns wusste, was passierte, wenn jemand die Funktionen der Uhr entdeckte und so beschlossen wir, niemanden ihr Können zu offenbaren.

Ein Lächeln überquerte mein Gesicht, als mir die Erinnerung an unser erstes Treffen mithilfe der Uhr wieder zu Kopfe stieg. Damals lag ich auf einer Wiese. Gemeinsam mit Issur. Wir betrachteten die grüne Landschaft. Zwei Monate, nachdem ich zu meiner Weltreise aufgebrochen war. Zum verabredeten Zeitpunkt traf ich mich am verabredeten Ort mit Issur, der damals gemeinsam mit seiner Schwester seine Tante besuchte. Er brachte mir das Reiten näher, während seine Schwester mir zeigte, wie sie die Kühe melkte. Als ausgeschriebener Vegetarier, der Hafermilch bevorzugte, hatte ich ihr nur amüsiert zugeschaut, während ich ihren Worten lauschte. Nachmittags unternahm ich immer einen Ausflug mit Issur. Einen ganzen Monat lang. Seine Tante bestand darauf, mir Brotbacken beizubringen. Außerdem musste ich dabei helfen, den Apfelsaft zu pressen. Am Ende dieses Monats lagen wir mal wieder auf dieser Wiese. Kurz, bevor all unsere Wege auseinandergegangen waren, hatte Othniel jedem von uns eine Uhr zum Abschied geschenkt. Dabei hatte ich mir noch nicht viel dabei gedacht.

„Damit wir uns nie aus den Augen verlieren", waren seine Worte gewesen, als er uns die Uhren gab.

Doch an jenem Tag, als ich mit Issur auf der Wiese lag, tippte er gegen die Uhr und zog sie schließlich aus. Verwundert sah ich ihn an. Er schüttelte den Kopf und meinte, dass es sich für ihn so angefühlt hatte, als wäre ein Rad locker. Ein Ton, der nicht zu den anderen passte. Bald darauf spürte ich ein Vibrieren am Handgelenk. Irritiert blickte ich auf die Uhr hinab und sah, dass das Ziffernblatt einem Kompass gewichen war. Die Kompassnadel rotierte erst unruhig und sobald sie wieder ruhig dalag, tauchte Othniel aus dem Nichts auf. Zufrieden betrachtete er uns und bald darauf erschien auch wieder das Ziffernblatt auf meiner Uhr. Als ich daraufhin, neugierig wie ich war, die Zeiger drehen wollte, erschien ein neues Ziffernblatt. Eins, das so aussah, als wäre es aus Holz geschnitzt.

„Für die Zeitreisen", kommentierte Othniel beiläufig. Die Ziffern sind in dem Fall das Datum. „Mit dieser Uhr kannst du auch an jeden beliebigen Ort reisen. So habe ich auch euch beide gefunden. Veysi und Sayat warten darauf."

Ohne unsere Antwort abzuwarten, zog er uns mit sich und wir wurden aus der Gegenwart gerissen, hin an einen Ort aus Rauch und Schall, bis sich der Nebel lichtete und wir auf einer eingeschneiten Landschaft zum Stehen kamen. Wir trafen uns auf einer Brücke. Diese Brücke wurde zu unserem Wahrzeichen. Wann immer wir einen Rückzugsort brauchten oder uns treffen wollten, trafen wir uns an dieser Brücke. Um in unsere Wirklichkeit zurückzufinden, mussten wir nicht mehr tun, als ins Wasser zu springen und bis an den Grund zu tauchen. Doch zurück auf der Wiese war die Nässe vollkommen verschwunden und Othniels Gestalt nur noch wie der ferne Nebel. Doch dieser Abend blieb uns in Erinnerung. Von da an trafen wir uns einmal im Monat. Immer an dieser Brücke. Manchmal schwirrten Schmetterlinge oder Libellen um uns. An anderen Tagen streckten sich Blumen dem Sonnenlicht entgegen.

Der Agent der DoppelmoralWo Geschichten leben. Entdecke jetzt