Kapitel 4

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Die Enttäuschung meiner Mutter stand ihr aufs Gesicht geschrieben, als ich meinen Backpackerrucksack packte. Der Zwischenstopp war praktisch. Meine komplette Wäsche wurde gewaschen und ich bekam neue. Doch ich konnte nicht für immer hier bleiben. Das hätte ihr klar sein müssen. Nur eine Woche, vielleicht auch zwei. Es wurde Zeit. Ich hatte einen Auftrag und mein Ziel war es, ein Agent zu werden. Also musste ich alles daran setzen, einer zu werden, jetzt da ich die Gelegenheit zu hatte.

In einem stillen Moment holte ich meine Unterlagen von dem Auftrag hervor. Das Bild, was einen etwa dreißig Jahre alten, freundlich lächelnden Mann zeigte. Agent Romeos. Daneben legte ich den Brief aus der Spieldose und den Zettel. Außerdem kramte ich meinen Notizblock hervor.
Wenn jemand weiß, wie er Friede verbreitet, dann weiß er auch, wie er die Welt in einem Atemzug zerstören kann.

Eine Weile betrachtete ich den Satz und versuchte diese Aussage zu verstehen. Agent Romeos widmete sein Leben der Friedensforschung. Einen kurzen Moment dachte ich an den Abschnitt „Ergebnisse und Resultate", verwarf den Gedanken aber wieder. Nur wer den Frieden kennt, weiß genug über ihn, um ihn effektiv zu zerstören. Das war die Aussage dieses Textes. Die Sachebene. Und die Beziehungsebene riet mir, dass Romeos genug über den Frieden wusste, um die Welt zu vernichten. Anscheinend besaß er die Macht die Welt zu zerstören und den Frieden auszulöschen. Aber wieso sollte jemand, der sich sein Leben lang dem Erforschen von Frieden gewidmet hat, jetzt die Seiten wechseln und ihn zerstören? Das ergab in meinen Augen keinen Sinn. Wieso sollte er den Frieden auf eine brennende Mauer legen? Was war sein Ziel? Macht? 

Keine Waffen. Die erste und wichtigste Regel seiner Aufzeichnung fiel mir wieder ein. Aber wie wollte er den Frieden aus der Welt schaffen und die Erde zerstören, wenn er keine Waffe nutzte? Worte. Eindringlich und gewandt. Ein wahres Talent fürs Reden. Auf einmal ergaben seine Worte Sinn. Und dennoch wollte ich an das Gute in ihm glauben. Wollte nicht glauben, dass er sein Wissen dafür nutzen würde, etwas Schlechtes zu tun. Und wofür? Geld? Macht? Gewissheit? Aber was brachte es einem, wenn das eigene Leben nicht sicher war? Spannung? Aufregung? Nervenkitzel? Adrenalin? Und was war mit seinem Gewissen?

Ich nahm die Fähre zu den Unbekannten Landen.
„Brauchst du eine Auszeit?" Ein etwas älterer Herr mit längeren Haaren und dunklen Augen begrüßte mich.
„Fernab von allem was einem die Zeit raubt", erwiderte ich sanftmütig.
„Versteh ich. Hier verirren sich selten Leute hin, die ein Ziel haben. Die meisten wollen Abenteuer erleben oder abschalten. Bei Gelegenheit arbeite ich hier auf der Fähre. Neue Leute kennenlernen. Mein Name ist übrigens Magnolin." 

Ich nickte und wollte mich schon abwenden, als mir eine Idee kam. Wenn er hier arbeitete, konnte er mir vielleicht auch auf meiner Suche weiterhelfen.
„Kennen Sie den Mann auf dem Bild hier?" Ich hielt ihm das Foto hin und ein Augenwinkel zuckte bei ihm, ehe er den Kopf schüttelte.

„Dabei könnte es sich um jeden handeln. Ich begegne jeden Tag so vielen Leuten..."
„Zeig her." Ein Mädchen, wahrscheinlich zwischen neun und dreizehn Jahren sprang hoch und langte nach dem Foto. Dann betrachtete sie es einen Moment. Zufrieden lächelte sie und schob einen ihrer beiden Zöpfe nach hinten. „Das ist..."
„Du bist ihm keine Antwort schuldig, Lorette."
„Woher kennst du Onkel ..."

„Wolltest du nicht deinen Schlafraum wischen? Und danach dem jungen Mann etwas zu trinken und essen bringen. Wie wäre es mit einem deiner leckeren Schokoladenkeksen."
„Das klingt wirklich ganz gut. Aber leider esse ich keine Schokolade. Wenn ihr aber Äpfel oder Maracujas hättet..."

„Wird erledigt." Lorette wand sich schon ab, hielt dann aber doch nochmal inne. „Wenn ich die mit Äpfeln, Maracujas und einem kalten Getränk und einer Zitronenscheibe versorgt habe, erzählst du mir deine Geschichte?"
„Meine Geschichte?"

„Du brauchst die Augenbrauen gar nicht so hochzuziehen. Jeder hat eine Geschichte. Und auch du bist nicht einfach so hier. Entweder du stehst vor einem Abenteuer oder hast eins hinter dir. Möglicherweise bist du auch inmitten deines Abenteuers. Andererseits suchst du vielleicht auch nur die Ruhe nach einem Sturm. Die Einsamkeit. Besinnlichkeit. Das Alleinsein. Oder du hast einen Auftrag. Mein Onkel meinte immer..."

„Lor", ermahnte Magnolin sie. Nickend wandte sie sich ab und eilte die Treppe nach oben. „Sie erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Mach dir nichts daraus. Zudem hat sie eine blühende Fantasie. Aber ich wollte Ihnen ja etwas von den Unbekannten Landen erzählen."
„Du ist schon vollkommen okay", kommentierte ich angesichts des Wechsels von Du zu Sie.
„Tut mir leid. Wenn ich etwas über Freunde erzähle, verwende ich oft unterbewusst das du. Bis ich bei Beschreibung oder dem Fachmännischen wieder in die Höflichkeit abrutsche. Aber gut. Dann bleiben wir beim Du."

„Was weißt du über die Unbekannten Lande?"
„Sie weisen andere Pflanzen und Tierarten auf als hierzulande üblich. Du kannst soweit schauen, wie du willst. Aber zum Großteil wirst du auf einen Dschungel stoßen. Davor auf einen Strand mit Salzwasserfischen im Meer. Und entgegen aller meiner Überzeugung enthalten die Flüsse so viel Salz, dass die Salzwasserfische auch dort leben. Angeblich entstammt das Salz einer Träne eines Heiligens. Aber wer sind schon die Heiligen. Glaubst du an Gott?"

„Ich glaube an immaterielle Substanz und an Frieden. An Aufrichtigkeit und Hilfsbereitschaft. Mir wurde beigebracht, nur das als gegeben hinzunehmen, was du wirklich beweisen kannst. Nein, von dem du weißt, dass es richtig ist, zumindest in einer Ebene. Der Rest bleibt dem Träumen überlassen. Du kannst von allem träumen. Von Phönixen und Faun. Von Satyr und Sphinx."
„Phönixe habe ich bereits gesehen, Hippocampi ebenso. Lass dir einen Rat geben und halte dich von den Kelpies fern. Außer du hast eine Trense oder ein Zaumzeug dabei."
„Werter Herr, wir leben in der echten Welt und nicht in irgendeiner erfundenen Fantasie. Es mögen zwar Sagengestalten sein, aber...."

„Denke nicht, dass ich dich belügen würde. Ich sagte doch bereits, dass in den Unbekannten Landen Tierarten existieren, die hierzulande nicht üblich sind. Oder warum denkst du, kamen die Leute auf die Idee, dass diese Gestalten tatsächlich existieren? Und wieso gibt es sie in unterschiedlichen Mythologien? Was denkst du, warum die Unbekannten Lande so heißen? Weil kein Mensch sie je besucht oder erforscht hat? Liegt es vielleicht nicht einfach daran, dass es dort Unbekannte Lebewesen gibt, die wir uns nicht vernünftig erklären können? Solltest du je nach einer Heilpflanze suchen, dann nimm die Gelbe Sternenfrucht. Aber pass auf, dass du nicht mehr als drei nimmst. Im Idealfall sollte eine schon genügen um deinen Wassergehalt zu stillen. Ansonsten kannst du nach Heidekraut und Arzneithymian verwenden. Zudem könntest du dich über Rumex longifolius und Viola odorata informieren. Zitronenmelisse kannst du zum Tee kochen. Aber nur in niedrigen Konzentrationen. Zu hohe Konzentrate können Reizungen verursachen. Falls du empfindliche Haut hast nimm also besser Abstand davon. Zitronenmelisse kann krampflösend, fiebersenkend und verdauungsfördernd wirken. Außerdem kannst du den Aufguss der Blätter gegen Depressionen, leichte Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen, ebenso wie gegen Nervenverspannungen einsetzen. Falls du Wunden hast, kannst du Zitronenmelisse ebenfalls nutzen."

Genau das, was ich brauchte. Der immateriellen Substanz sei verdankt, dass Lorette in dem Moment mit einem Tablett auf den Fingerspitzen balancierend zurückkehrte und auf einen Tisch zusteuerte.
Entschuldigend lächelte ich Magnolin an und schritt auf den Tisch zu, um mich zu Lorette zu setzen.

Der Agent der DoppelmoralWo Geschichten leben. Entdecke jetzt