Das Leben in der EisWelt

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In der EisWelt ist man in der Stille gefangen. Sie umgibt einen wie ein kaltes Netz. Manchmal ist die Stille derart laut, dass man schreien möchte. Die einzige Möglichkeit, diese stille Folter zu unterbinden, ist das Knacksen eines Feuers, das Dröhnen eines Motors oder der Ruderschlag eines Kanus.

Sonya lebte in einem Dorf am Ufer des Zeitmeeres. Die nächste große Stadt war eine dreistündige Fahrt mit dem Eisschiff entfernt. Die meisten Leute verdienten ihre Cops mit dem Fischen der Siebendärmer, die Hauptenergiequelle in der EisWelt. Siebendärmer wurden gejagt, geschlachtet und verarbeitet. Nahezu alles an ihnen war ertragreich. Der Treibstoff für die Eisschiffe, der Brennstoff für den Kamin oder generell der Strom, das alles wurde aus den Innereien der Siebendärmer hergestellt. Der Gestank war schon längst kein Thema mehr, er war ein ständiger Begleiter, genauso wie die Stille, wenn die nächtlichen Stürme außen vor den Hütten tobten.

Als Paketbotin musste man nicht auf die Jagd. Die Gefahr, ein eisiges Grab zu bekommen, war trotzdem nicht geringer. Zwar war Sonyas Eisschiff bestens ausgestattet und hatte sie vor so manch einem Sturm gerettet, doch welcher Job war in dieser Welt nicht gefährlich? Zweimal die Woche fuhr sie ihre Tour, hinein in die große Stadt, Machnet. Machnet ernährte sich von den Dörfern ums sich herum. Die Menschen kannten die Kälte genauso gut und doch wussten sie nicht mehr, wie es ist, tagtäglich, die zentimeterdicke Eisschicht von den Scannern zu kratzen, die Lüftungen der Hütten aufzutauen oder vergeblich nach verschollenen Personen zu suchen, die sich zu spät vor den regelmäßigen Eisstürmen in Deckung begeben haben. Machnet-Bewohner lebten ein Leben, das sich alle in der EisWelt wünschten, doch das nur über Beziehungen zu erlangen war. Sonyas Reisen in die Stadt wären für viele ein Traum, bekam man doch die Genehmigung zur Einreise nur unter zwielichtigen Umständen oder, wenn es eine berufliche Ausnahme war, wie bei der Paketbotin. Alle Emotionen die Sonya hingegen fühlte, wenn sie den langen unterirdischen Tunnel nach Machnet hineinfuhr, waren wie weggeblasen. Sie gab ihre Waren ab, erledigte ihre Aufträge und holte Bestellungen bei ihren Lieferanten ab. Die glitzernden Eisfassaden nahm sie kaum mehr wahr. Anfangs noch geblendet und erstarrt vor Ehrfurcht, waren diese Eisblöcke mit den tausenden geschäftigen Menschen darin, nur noch ein Symbol dieser Utopie, die in Machnet herrschte. Sobald die Leute in Machnet aufgenommen wurden, vergaßen sie, wie das Leben da Draußen wirklich war. Wie sehr der Gestank die Nasenschleimhaut wegätzte, wie kalt Kälte wirklich sein konnte und wie sehr man im Grunde auf die kleinen Menschen, jene, die die Drecksarbeit bei der Jagd machen angewiesen war. Nichts würde hier laufen, wenn die Jäger nicht regelmäßig genug Siebendärmer erbeuten würden, dachte Sonya in Wirklichkeit. Die Frustration und Wut, die in Sonya gärte, war ihr nicht bewusst. Sie kannte dieses Gefühl nicht, war es doch Zeit ihres Lebens oberste Priorität nicht zu erfrieren, genug zu essen zu haben und für ihre Zukunft vorzusorgen.

Jetzt war sie an diesem Punkt angelangt: Sie hatte ein eigenes Heim, einen Job, der benötigt war und für den sie mehr als qualifiziert war und die Kälte konnte bekämpft werden, wenn genug Tran der Siebendärmer da war. Ohne Eltern und nur von Bekannten zu Bekannten weitergeben, konnte Sonya noch nie verstehen, was es mit einem Zuhause auf sich hatte. Erst seit Kurzem wurde ihr der Begriff klarer. Das Dorf hinterließ ihr, in einem gemeinsamen Beschluss, die Hütte des verstorbenen Priesters. Ein richtiges Zuhause, zwei Räume an der Oberfläche, der Standardgarten im Keller und eine Panzereisgarage für ihr Eisschiff. Bis heute konnte Sonya es nicht fassen. Alles, von dem sie sich als Kind nie träumen getraut hatte, wurde ihr von diesem Jagd-Dorf geschenkt. Sie sei etwas Besonders, hieß es. Niemand sonst könne die Eisschiffe durch die Stürme lenken und wieder zurückkehren. Mit der Annahme der Hütten verpflichtete sich Sonya, die Paketbotin des Dorfes zu werden. Seit Jahren hatte sich keiner für längere Zeit gewagt, die Strecke nach Machnet zweimal die Woche zurückzulegen. Lieber ruderten sie auf dem Zeitmeer in die Gletscherflüsse hinein, um die Herden von Siebendärmern auszuforschen. Die bis zu sieben Meter langen Tiere lebten meist in den Canyons der Gletscher, die sich zum Zeitmeer öffneten. Die Canyons waren in stetiger Bewegung, nie waren an einem Tag wie am anderen. Nur erfahrene Jäger konnten manche Berge am nächsten Tag wiedererkennen. Doch nach einer Woche hatte man ein komplett anderes Eismassiv vor sich. Die Eiswände gingen senkrecht nach oben, teilweise fuhren die Jäger an 40 Meter hohen Wänden entlang, durch enge Kanäle, die sich jederzeit schließen konnten. Das ein Kanu samt Insassen zerquetscht wurde, war meist keine Seltenheit, doch meistens starben die Jäger, durch die Siebendärmer. Zwar hatte man im Laufe der Zeit herausgefunden, dass die Tiere schwimmendes Holz nicht hören oder sehen können, doch den Geruch der Menschen nahmen sie immer noch wahr. 

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