Folge 3: Magie ohne Magier

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Als nach einigen Stunden endlich die Dunkelheit anbrach, zögerte Tom nicht lange und hängte das „Geschlossen!"-Schild an die Scheibe des Kassenhäuschens. Der Rummelplatz war zwar auch zu dieser Zeit noch gut besucht, aber die Bewohner der Schreckensfahrt hatten keine Zeit zu verlieren.
  Deswegen machte sich Tom auch so schnell er konnte auf den Weg ins Innere der Geisterbahn. Vlarads Labor war aktuell nicht wirklich benutzbar, doch er hatte es trotzdem geschafft, im Laufe des Tages genug Ektoplasma-Eimer für alle herzustellen.
  Um seinen Sarg versammelt standen also alle bereit vor ihren Eimern. Nur Welf schwebte ohne passenden Reiseschleim herum, er würde durch Mimis Kräfte auch ohne Ektoplasma rechtzeitig ankommen.
  »Hop-Tep, wie war nochmal die Adresse?«, fragte Tom nun schon zum vierten Mal.
  Der ägyptische Prinz nannte sie ihm geduldig erneut, obwohl er wusste, was Tom da versuchte: Er wollte Zeit schinden.
Tom hatte schon immer seine Probleme mit dem grünen Schleim gehabt, obwohl im klar war, dass Meckern überhaupt nichts brachte.
»Tom, es hilft nichts. So cool ich das jetzt finde, dass ich die ganze Zeit über feststofflich bin, wir können so nicht bleiben und deswegen müssen wir Hop-Teps Freund suchen«, warf Mimi ein.
»Du hast ja recht, ich hab nur überhaupt kein Bock auf diese Übelkeit. Wenn doch wenigstens Reisetabletten wirken würden, aber die sind ja bei Magie völlig nutzlos!«
»Nun komm schon Tom, und läuft die Zeit davon!« Dada beugte sich bereits ungeduldig über einen Eimer, sodass ihre roten Haarspitzen durch das grüne Gemisch schwenkten.
Tom atmete tief durch und konzentrierte sich. »Okay, dann mal los.«
Er bekam nicht mehr mit, wie die anderen ihre Köpfe jeweils in die grüne Masse senkten und schrie schon die Adresse des Magiers in seinen eigenen Eimer. Das schrecklich vertraute Gefühl des Soges packte ihn wie eine Schlinge und als er die Augen öffnete, blendete ihn die neue Umgebung.
»Aah! Was ist denn hier so hell?«
»Komm runter Tom, alles ist gut. Wir sind da!«, versuchte Dada ihn zu beruhigen, doch Tom befand sich noch fest im Griff der Übelkeit.
»Aber meine Augen, was war das?«
Welfs dunkle Stimme schaltete sich ein: »Tom. Du liegst auf dem Boden und hast beim aufwachen direkt in eine Straßenlaterne geguckt. Beruhig dich mal.«
»Straßenlaterne? Oh.« So langsam klagte sich Toms Blick wieder auf, er erkannte das warme Leuchten und kam sich augenblicklich ziemlich überdramatisch vor.
  Er sah sich etwas genauer um und bekam einen ganz schönen Schrecken, als er Mimi neben sich liegen sah.
  »Mimi! Ist alles in Ordnung? Geht's dir gut?«
  Sie blinzelte schwach. »Alles okay Tom, ich muss mich nur erstmal zurecht finden. Jetzt weiß ich endlich, warum du das Ektoplasma so hasst.«
Stimmt ja, dachte Tom, das war ja Mimi's erste Teleportation mit dem Reiseschleim gewesen! Kein Wunder, dass sie es noch schlimmer wegsteckte als er selbst. Doch noch bevor er überhaupt auf den Beinen war, zogen Hop-Tep und Vlarad Mimi schon an den Armen hoch.
Während alle noch benommen von der Reise dastanden, bewegte Wombie sich. Es wirkte weniger eindrucksvoll, jetzt wo er nur noch halb so groß war wie zuvor, doch davon ließ er sich nicht beirren. Langsam streckte er seinen linken Arm geradeaus nach vorne, um mit dem Zeigefinger auf das Haus vor ihnen zu deuten.
»Wir haben unsere Destination erreicht«, verkündete Hop-Tep fröhlich.
Das Haus wirkte überhaupt nicht magisch oder auch nur irgendwie besonders. Hätte Hop-Tep nicht bestätigt, dass sie angekommen waren, dann wäre Tom wahrscheinlich an dem mehrstöckigen Einfamilienhaus vorbeigelaufen.
  »Sind wir hier ganz sicher richtig?«
  »Natürlich. Mein Gedächtnis trügt mich nicht, dies ist definitiv die Behausung meines alten Freundes Thomas.«
  »Thomas?«, fragte Tom, er hatte für einen Magier eigentlich einen... magischeren Namen erwartet.
  Hop-Tep blinzelte amüsiert und schritt nach vorn.
  Hinter ihm machte auch Vlarad einen Schritt auf das völlig normal aussehende Haus zu. »Sind wir nun alle bereit, das zu tun, wofür wir hergekommen sind? Uns läuft die Zeit davon.«
  »Ach so klar, damit wir vor Sonnenaufgang zurück sind. Hast recht Vlarad«, meinte Tom.
  »Nein Junge, dies ist nicht der einzige Grund, warum ich zur Eile aufrief. Je länger wir uns in diesem Zustand befinden, desto schwieriger wird die Umkehrung werden. Darum ist es von höchster Wichtigkeit, dass wir schnellstmöglich Thomas treffen.«
  »Was? Das wusste ich ja auch nicht!« Dada fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut, nun wirkte sogar sie nervös.
  Tom rappelte sich vollständig auf. »Wieso das denn Vlarad? Warum haben wir bei sowas immer Zeitdruck, das ist so unfair!«
  »Das ist nicht unfair, sondern logisch. Um einen Kräftetausch zu widerrufen, muss sich jedes beteiligte Wesen an den vorherigen Zustand erinnern. Wenn du nun mehrere Tage lang als Werwesen herumspazierst, dann wirst du schnell vergessen, wie sich deine Menschlichkeit zuvor angefühlt hat. Ist diese körperliche Erinnerung vollständig verschwunden, können wir nicht mehr länger zurück.«
  Auch Vlarad wirkte wenig begeistert von der Vorstellung, für immer so zu bleiben, obwohl es ihn wohl am besten getroffen hatte. Schließlich hatte er durch Hop-Teps Fähigkeiten immer noch untote Kräfte, doch er konnte nun ins Tageslicht. In der Mittagspause hatte Tom beobachtet, wie der bleiche Ex-Vampir beinahe ehrfürchtig auf den sonnenbeschienenen Platz trat und die Arme ausbreitete. Einige Menschen hatten sich verwirrt zu dem seltsam gekleideten Mann umgedreht, doch dieser wirkte völlig gebannt von den hellen Sonnenstrahlen. Tom, Hop-Tep und Mimi hatten ihn bei dieser Aktion vom Zirkuswagen aus zugesehen, wobei alle drei spürten, wie schön dieser Moment für Vlarad sein musste.
Dennoch war auch der Aristokrat fest entschlossen, die alte Ordnung wiederherzustellen.
»Dann los, wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich will so schnell wie möglich wieder Sachen anfassen können!« meinte Welf und flimmerte hektisch auf der Stelle. Mimi grinste bei dem Anblick und stapfte betont schwerfällig auf das Gebäude zu.
Hop-Tep streckte bereits den Finger zur Türklingel aus. Das Schild las „Meier", und gab ein gedämpftes Ding Dong von sich, als Hop-Tep den Knopf betätigte.
Keine Reaktion.
Nach zwei weiteren Versuchen zeigte sich immer noch keine Regung. War der Magier etwa nicht zuhause? Dabei war es spät Abends, eigentlich keine Ausgehzeit.
»Wir haben keine Zeit für sowas, ist die Tür offen?«, knurrte Welf ungeduldig.
Die Tür war nicht offen. Doch Wombie hatte schon einen anderen Plan: mit etwas Anlauf rammte er wie in Zeitlupe die massive Tür mit der Schulter und... nichts. Tom musste fast lachen, als er den verwirrten Blick des ehemaligen Zombies sah.
  Mimi schien es ähnlich zu gehen, trotz der ärgerlichen Lage war Wombie einfach zu süß.
  Hop-Tep legte dem nun deutlich kleinerem Menschen die Hand auf die Schulter und schob ihm sanft zur Seite. Offenbar war das nun sein Job. Mit einem mächtigen Stoß rammte Hop-Tep mit seinem bloßen Ellbogen die Tür auf. Er konnte von Glück sagen, dass sie nicht aus den Scharnieren geflogen war!
  Mimi klopfte dem nun zombifizierten ägyptischen Prinz anerkennend auf die Schulter, wollte aber offensichtlich auf keinen Fall in das dunkle Haus vorgehen. Das tat Hop-Tep wiederum, der sich dabei allerdings bücken musste, um durch den Türrahmen zu passen.
  Hinter ihm suchte Tom tastend nach einem Lichtschalter. »Hallo? Ist jemand zuhause?!«
  Nichts.
  Vlarad sah sich interessiert in dem völlig normal aussehenden Eingangsbereich um. »Falls die von uns aufgesuchte Person sich in diesem Gebäude befinden würde, meinst du nicht, dass wir spätestens nach dem Eintreten ihrer Haustür ihre volle Aufmerksamkeit hätten?«
»Stimmt«, meinte Tom niedergeschlagen. Er wagte sich vorsichtig aus dem Eingangsbereich heraus ins nächste Zimmer — und staunte.
Nichts erinnerte mehr an ein völlig normales Familienhaus, der große Raum sah viel mehr aus wie Vlarads Labor, nur sehr, sehr viel größer. Auch der ehemalige Vampir hatte nun die magische Einrichtung erspäht und war sichtlich begeistert.
»Welch ein fantastisches Labor! Was würde ich geben für so eine gut geführte Sammlung magischer Artefakte, faszinierend!« Er betrachtete die verschiedenen Regale und Vorrichtungen eingehend und schien vertieft in Zutatenlisten.
Interessiert blickte Tom sich um, doch noch während er sich drehte sah er, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
Doch Dada kam ihm schon zuvor: »Leute schaut mal! Die Schreibtischlampe leuchtet, und in ihrem Schein liegt ein Brief!«
Tatsächlich schien die batteriebetriebene Funzel genau auf einen weißen Umschlag.
Tom streckte schon seinen Arm danach aus, doch Mimi hielt ihn zurück: »Vorsicht! Weißt du nicht mehr, was beim letzten Mal passiert ist, als wir einen Brief angefasst haben?«
Er erinnerte sich sofort an ihr letztes Abenteuer, durch dass sie beinahe im europäischen Hexengericht verurteilt worden waren.
Vlarad und Hop-Tep beäugten den mysteriösen Brief interessiert. Es sah schon ziemlich lustig aus, wie Hop-Tep mit einem Bleistift an dem Brief herumstocherte, ohne dass irgendetwas passierte.
»So sehr ich auch stets ein Verfechter größerer Vorsichtsmaßnahmen bin, wir haben keine Zeit. Wenn es eine Falle ist, dann müssen wir wohl oder übel hineintappen, um weiterzukommen.« warf Vlarad ein, »Dennoch halte ich es für Unklug, wenn Tom den Umschlag öffnet.«
»Ich mach's!« rief Mimi, sichtlich stolz, dass sie dazu nun auch in der Lage war.
Vlarad trat zur Seite und ließ das ehemalige Geistermädchen an den großen Schreibtisch heran.
Sie berührte den Umschlag... und... nichts.
»Äh... Soll ich den jetzt einfach aufmachen?«
»Ich wüsste nicht was dagegen spräche«, meinte Hop-Tep.
Auch Welf war die Ungeduld anzusehen. »Jetzt mach schon, es ist fast halb drei!«
Mimi Riss vorsichtig die Öffnung auf, ganz zum Missfallen Vlarads, der ihr demonstrativ den beiliegenden Brieföffner zuschob. Als der Umschlag endlich offen war, faltete Mimi einen Zettel heraus.
Sie las vor: »So mein Freund. Du hast es also hierher geschafft. Ich hoffe mal, du weißt wer ich bin. Obwohl, das wirst du wohl vergessen haben. Jetzt ist meine Zeit für Rache. Monatelang habe ich hierauf gewartet, und du wirst bezahlen! Wenn du mal wieder Leute unaufgefordert retten willst, komm morgen Nacht, am siebzehnten zum Kirmesplatz in Recklinghausen! Bring fünfzigtausend Euro mit, wenn Thomas leben soll.«
  Stille.
  »Äh...« Tom war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. »Thomas wurde... entführt?! Aber wie- Was- An wen geht der Brief überhaupt?«
  »Das, junger Prinz, ist zunächst unbedeutend. Denn da wir nun wissen, dass er sich in Gefahr befindet, ist es unsere Pflicht, ihm zu helfen« meinte Hop-Tep, der ziemlich besorgt guckte.
  Vlarad legte seinem Freund beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich stimme dir zu Hop-Tep. Außerdem wäre ich dafür, dass wir nun erst einmal zur Schreckensfahrt zurückkehren und in Ruhe unsere nächsten Schritte planen.«
  Niemand hatte dagegen etwas einzuwenden, weshalb die Gruppe begann, eine erneute Ektoplasmareise vorzubereiten. Alle Beteiligten waren etwas betreten und in Gedanken versunken, weshalb sie völlig überfordert waren, als sie schließlich vor Vlarads Sarg ankamen. Verdattert starrten sie der Gestalt vor ihnen in die Augen, welche genauso schockiert zurück starrte.

Ghostsitter Staffel 7,5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt