Kapitel 15

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„William! Bitte, denk nochmal darüber nach. Ich bin mir sicher, es geht ihr gut!“ „Das Gefühl habe ich aber nicht! Sie hat sich seit Wochen nicht gemeldet! Es ist Dezember, Catherine! Ich mache mir Sorgen!“ „Aber sie ist extra weggefahren um dem Druck zu entfliehen! Es wird nicht besser, wenn du dich ihr jetzt aufdrängst!“ „In Ordnung. Ich warte noch zwei Tage. Wenn sie bis dahin nicht angerufen hat, fahre ich hin!“ So lange musste er gar nicht warten. Denn nicht einmal vierundzwanzig Stunden später bekam er einen Anruf, allerdings nicht von Evelyn. „William Wales“, meldete er sich wie gewohnt. „Hier ist Edith, Evelyns Pflegemutter. Ich muss ganz dringend  mit dir reden, William.“ Er bemerkte die Sorge in ihrer Stimme. „Ist etwas passiert?“ Er hörte Catherine im Hintergrund das Badezimmer verlassen und durch die Wohnung gehen, doch er wartete angespannt auf Ediths Antwort. „Evelyn geht es nicht gut. Ich mache mir Sorgen um sie. Sie isst nicht richtig, ist sehr blass und wird immer dünner. Sie redet auch nicht wirklich mit uns. Erst hatte ich das Gefühl, es tut ihr gut hier zu sein, aber ich komme nicht so recht an sie heran. Wenn sie nicht in ihrem Zimmer ist, ist sie beim Sport. Ich weiß einfach nicht was ich noch machen soll.“ „Ich komme. In höchstens drei Stunden bin ich bei euch.“ „Danke.“ Er legte auf und eilte los um sich einen Koffer zu packen. „Was ist los, Will?“ Catherine stand in Jogginghose, Top und einem Handtuch um die Haare vor dem Spiegel, als er hereinplatzte. „Edith hat angerufen und gesagt, Evelyn geht es nicht gut. Ich fahre noch heute hin.“ „Soll ich mitkommen?“ „Nein, ich denke, es ist besser wenn ich alleine fahre. Vielleicht ist es mal ganz gut wenn es nur wir zwei sind. Bis jetzt war immer jemand dabei, außer in Liverpool.“ William achtete nicht darauf ob seine Klamotten nun ordentlich gefaltet waren, sondern warf die Sachen einfach in den Koffer. Zwanzig Minuten später stieg er auch schon ins Auto und fuhr los.
Geschafft kam Evelyn wieder Zuhause an. Ihre Laufrunde war etwas länger als normal gewesen, über zwei Stunden. Sie zog die dreckigen Schuhe vor der Tür aus und schlüpfte nach drinnen. Das Frühstück und Mittagessen hatte sie ausfallen lassen, weil sie einfach keinen Hunger hatte. Sie duschte lang und heiß, um die düsteren Gedanken in ihrem Kopf zu verdampfen, doch es klappte nicht so recht. Dick eingemummelt saß sie in ihrem Bett und starrte an die Wand. Ihr Kopf drehte sich und alle wirbelte durcheinander. Sie wusste selbst nicht so recht was sie fühlen sollte. Sie fühlte sich so klein, nutzlos und ungenügend, gleichzeitig wusste sie auch, dass das nicht wahr war. Doch sie fühlte sich trotzdem mies. Sie krallte ihre Finger in die Decken und begann stumm zu weinen. Es klingelte an der Haustür. Wer kam denn um diese Zeit noch vorbei? Vielleicht Freunde von Edith und James. Dann klopfte es plötzlich an ihrer Tür. Verwirrt wischte sie die Tränen ab. „Ja?“
William öffnete vorsichtig die Tür und steckte den Kopf nach drinnen. „Hey, Lyn. Darf ich reinkommen?“ Er erkannte sofort was Edith gemeint hatte. Nach einem zustimmenden Nicken, schloss er sie hinter sich und stand etwas unbeholfen im Raum. „Ich dachte, du fährst bald mit Catherine nach London.“ „Ich hab lang nichts von dir gehört und dachte, ich schau mal, ob alles in Ordnung ist.“ „Hat Edith dich angerufen?“ Er wollte sie nicht anlügen. „Ja, vor ein paar Stunden. Ich bin sofort hergekommen.“ „Also wärst du nicht gekommen, wenn sie dich nicht darum gebeten hätte.“ Er sah die Enttäuschung in ihren Augen, die Angst. „Doch, spätestens übermorgen, wenn du dich nicht gemeldet hättest. Ich wollte schon gestern kommen, doch ich wurde von meiner Freundin abgehalten, weil sie nicht wollte, dass ich dich einenge.“ Sie begann wieder zu weinen. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. „Was ist denn los? Edith hat nur gemeint, dass du nicht isst und du nicht gut aussiehst. Willst du mir vielleicht erzählen was los ist?“ Evelyn sah ihn an: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, Will. Manchmal geht’s mir gut und ich würde am liebsten die Welt umarmen und dann denke ich wieder es wäre besser, wenn es mich nicht geben würde, wenn es vorbei wäre.“ Sie sah schon nur noch verschwommen, wegen der Tränen, und ob ihr Bruder sie wirklich verstanden hatte, wusste sie auch nicht, denn sie musste wirklich gestottert haben. Doch William hatte alles verstanden. Und es schnitt ihm ins Herz. Er lies ihre Hand los. „Gehst du jetzt?“ Verzweifelt sah Evelyn ihn an. Wortlos zog er seine Schuhe aus und kam zu ihr unter die Decke. Er legte einen Arm um sie und zog sie nah zu sich. „Niemals würde ich dich alleine lassen. Egal was passiert, ich bin für dich da. Wir finden einen Weg, damit es dir besser geht. Da bin ich mir sicher.“ „Danke“, nuschelte sie in seinen Pullover. „Ich hab McDonalds mitgebracht. Und deine Lieblingssnacks: Reiswaffeln, Gummibärchen und Erdbeerjoghurt.“ „Woher weißt du das?“ „Ich hab eine gute Beobachtungsgabe, weißt du. Soll ich die Sachen reinholen? Magst du etwas essen?“ „Essen wir im Bett?“ „Wenn du möchtest.“ Er stand auf und holte die Tüte vom Flur herein. Aus dem Bad holte er ein Handtuch, das sie auf der Bettdecke ausbreiteten. Evelyn half ihm die Sachen auszupacken. Edith hatte dafür gesorgt, dass das Essen noch warm war. „Was ist das?“ Sie hielt ein schmales Päckchen in der Hand. „Du hast dein Lieblingsbuch in London gelassen, weil du dachtest, du kommst bald wieder. Ich dachte, du willst es vielleicht gerne lesen.“ Ihr kamen wieder die Tränen. „Das ist lieb von dir.“ Sie nahm sich Pommes und Chicken-Nuggets.
Sie saßen noch immer in Evelyns Bett. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und sie hatten eine Lampe anmachen müssen. Sie hatte William alles erzählt und er hatte ihr geduldig zugehört, Tränen getrocknet und sie getröstet. Jetzt saßen sie nebeneinander im Bett und Evelyn hielt das Buch in den Händen. „Liest du mir vor?“ Sie sah ihn verlegen an. „Klar, mach’s dir bequem.“ William nahm ihr das Buch ab und schlug die erste Seite auf. Evelyn kuschelte sich in ihr Kissen und schloss die Augen. „Kapitel 1: Die Katze mit dem blauen Fell und wie sie mir Jakob vorstellt.“ Mit ruhiger Stimme begann er zu lesen. Die Zeit verflog nur so und schon bald war er beim siebten Kapitel angekommen. Ein Blick auf seine Schwester zeigte, dass sie friedlich eingeschlafen war. Während sie so da lang, fiel ihm auf wie zart und zerbrechlich sie aussah. Sie zuckte im Schlaf zusammen und tastete nach etwas. Er legte seine Hand dorthin und als sie sie ergriff, atmete sie im Schlaf erleichtert auf. Er rutschte ebenfalls etwas tiefer und versuchte zu schlafen.
Alles um ihn herum war verschwommen. Es musste irgendein Feld sein. Verwirrt sah er sich um. Er träumte nicht oft so realistisch. „Will?“ Diese warme Stimme hatte er schon lange nicht mehr gehört. „Mum!“ Plötzlich stand sie vor ihm. Ihre Haare waren länger als bei ihrem Tod und sie trug weiße Leinenkleider. „Mum.“ Er streckte vorsichtig eine Hand aus. „Es bin wirklich ich. Also nicht wirklich, aber in deinem Traum bin ich echt. Ist Evelyn bei dir?“ „Ja, ich habe sie gefunden. Sie ist jetzt siebzehn und eine fabelhafte Tänzerin.“ „Das freut mich zu hören. Geht es ihr gut?“ „Es geht so. Sie hat einen Freund an Krebs verloren und sie strauchelt mit ihrer mentalen Gesundheit. Aber wir kriegen das hin.“ „Und du? Was machst du?“ „Ich bin beim Militär und habe eine Freundin, Catherine. Sie ist wirklich wundervoll.“ „Und Harry?“ „Immer noch der gleiche Wirbelwind. Er ist auch beim Militär.“  Diana lächelte ihn an und griff nach seiner Hand. „Du hast noch etwas auf dem Herzen, Liebling. Was ist es?“ „Wieso hast du Evelyn deine Bucket-List gegeben? Sie denkt, sie muss sie abarbeiten.“ „Nein, das sollte sie nicht. Ich hatte Angst, dass sie in das royale Leben gezogen wird und keinen Spaß am Leben hat. Mit der Liste wollte ich sie dazu bringen sich immer mal wieder eine Auszeit zu nehmen.“ Nachdenklich sah William in die Ferne. „Ich weiß nicht genau, was ich machen soll. In London war es nicht gut für sie, aber als sie nach Wales zu ihren Pflegeeltern gefahren ist, hat es auch nicht geholfen. In einem Monat will sie ihre Ausbildung zur Tänzerin anfangen. Das ist aber gefährlich, wenn sie bis dahin nicht richtig isst und ihre Psyche nicht stabil ist.“ „Du musst vor allem für sie da sein. Ein Bruder an ihrer Seite, jemand, der immer zu ihr hält, ist jetzt wahrscheinlich das wichtigste für sie.“ „Ich glaube, sie vertraut mir nicht so ganz." „Wieso denkst du das?“ „Sie ist ein Einzelkämpfer und behält wichtige Dinge gerne für sich. Und wenn es schwierig wird rennt sie davon.“ „Ihr findet sicher einen Weg. Ihr zwei seid euch ähnlicher als ihr vielleicht glaubt. Ich hab euch drei so lieb. Sag ihnen das. Ich hab euch alle lieb, Will. Dich, Harry und Evelyn.“ Sie wurde langsam wieder durchsichtig. „Warte! Du hast mir noch nicht gesagt was ich mit Evelyn machen soll!“ „Liebe sie! Sei für sie da!“ Schon war sie verschwunden und er fuhr aus seinem Schlaf hoch.

Die Bucket-List meiner MutterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt