Schatten der Erinnerung Teil3

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Nachdem der Ort hinter mir lag, musste ich aufpassen, dass ich die Abzweigung nicht übersah. Ich hielt noch einmal auf einem Seitenstreifen an und warf einen letzten Blick auf die Karte. Es musste irgendwo in der Nähe sein.

Kurz darauf entdeckte ich die schmale Straße zwischen den hohen Kiefern und bog ab. Zufrieden, dass ich den Weg auf Anhieb gefunden hatte, legte ich meine Lieblings-CD in den Player. Schräge Töne und die markante Stimme von Serj Tankian erfüllten den kleinen Wagen. Danach kam ein Lied von Pornophonique. Ich sang den Song aus vollem Hals mit. »Sometimes I fear the reaper, sometimes, I am afraid to die. I think it's time to leave my love one, I think it's time to say goodbye ...«

Die Straße wurde immer enger und die Bäume entlang der Fahrbahn immer dichter. Bald endete die asphaltierte Strecke und wurde zu einer regelrechten Schotterpiste. Vorsichtig lenkte ich mein Auto um die Kurven, die durch dicht stehende Kiefern kaum einzusehen waren. An einer Wegkreuzung hielt ich an, um mich neu zu orientieren. In welche Richtung ging es nun weiter? Ratlos schaute ich die beiden Waldwege entlang. Dann entdeckte ich den verwitterten Holzpfeil an einer Birke. Von der Aufschrift war nur noch das Å zu erkennen. Es hatte sich wirklich nichts verändert. Lächelnd gab ich Gas.


Immer weiter schlängelte sich die holperige Sandpiste Richtung See. Zwischen den schattigen Bäumen konnte man hin und wieder das tiefe Blau des Wassers erspähen. Versteckt im Wald lagen einzelne Sommerhäuser mit der typischen, schwedenroten Farbe. Der Weg stieg nun etwas an und führte an zwei Häusern vorbei, die dichter an der Straße lagen. Die Fensterläden waren geschlossen. Es schien niemand mehr da zu sein. Die Sonne blitzte zwischen den Baumwipfeln hindurch. Ein Schild wies darauf hin, dass der Waldweg an dieser Stelle endete. Ich ließ den Wagen ausrollen und hielt kurz vor einer alten Holzbrücke an. Automatisch drehte ich den Kopf nach rechts und schluckte. Dort lag es: Das Sommerhaus meiner Kindheit. Der Rasen davor war gepflegt und wurde von der Sonne beschienen. Ein Kiesweg führte zwischen den Rasenflächen zur Haustür. Blumenkästen mit bunten Petunien standen auf der kleinen, überdachten Holz-Veranda.

Direkt hinter dem Haus befand sich der See und ich konnte sogar das kleine Ruderboot am Anlegesteg entdecken. Rechts neben dem Haus stand ein hoher Fahnenmast, an dem die schwedische Flagge munter im Wind flatterte. Ich zwinkerte mehrmals und als das nicht reichte, kniff ich mich sogar in den Unterarm. »Au!«, entfuhr es mir. Aber alles blieb so wie es war. Es war kein Traum. Ich war wirklich da! Niemals hätte ich gedacht, dass ich dieses Haus noch einmal sehen würde. Dieses Bild wirkte nicht nur so unwirklich und kitschig, als ob es direkt aus einem Reisekatalog gerissen wäre, es sah auch noch alles genauso aus wie damals. Unentwegt starrte ich auf das Haus. Fast erwartete ich, meinen Vater gut gelaunt um die Ecke kommen zu sehen. Meine Hände klammerten sich um das Lenkrad. Ja, ich war wieder an dem Ort, den ich über alles geliebt hatte. Aber ich war allein. Niemals würde es wieder so sein, wie es einmal gewesen war. Ich kämpfte gegen meine Tränen an.

Nach all den Jahren war ich zurückgekehrt.

In diesem Moment wurde mir klar, dass es nicht so einfach werden würde, wie ich gedacht hatte. Einige Minuten saß ich reglos da und blickte durch die Scheibe auf das Grundstück. Dann straffte ich meine Schultern und stieg aus. Zögernd ging ich auf die weiße Holztür zu. Dort hing ein kleiner Willkommensgruß von Herrn Krångshult. Der Schlüssel lag unter der Fußmatte, wie immer. Ich schloss die Tür auf und blieb kurz im Hausflur stehen. Stille empfing mich und das wohlige Gefühl wieder zu Hause zu sein.

Ich trat in die große, von Sonnenlicht durchflutete, Wohnküche. Winzige Staubflocken tanzten in der Luft. Auch drinnen schien sich nichts verändert zu haben. Der schwere Holztisch vor dem Fenster, an dem wir so oft gegessen hatten und die dunkle Küchenzeile mit dem altmodischen Herd standen noch immer an ihren angestammten Plätzen. Ich fuhr mit den Fingern über die Tischplatte und schloss die Augen. Eine Szene tauchte vor meinem inneren Auge auf: Mutter stand am Herd. Ich saß neben Ben an dem massiven Küchentisch. Ben schnappte sich ein Schälmesser, um lustige Figuren aus Kartoffeln und Möhren zu schnitzen. Ich schaute ihm mit großen Augen zu. Mein großer Bruder war immer mein Held gewesen, auch wenn er es geliebt hatte mich zu necken. »Buuuuhuuu, ich bin ein Gespenst!«, rief Ben und warf mir eine geschnitzte Kartoffel zu.

»Mama, Ben wirft mit Geisterkartoffeln nach mir«, quietschte ich.

Meine Mutter drehte sich um und stützte dabei ihre Hände in die Hüften. »Vielleicht wäre es besser, wenn ihr die Geister in die Suppe werfen würdet.« Unsere Mutter war eine praktische Frau gewesen.

Ben sammelte seine Figuren ein und brachte das Gemüse zum Herd. »Was ist denn das für ein Geist?«, fragte unsere Mutter, als sie eine malträtierte Mohrrübe betrachtete, die Ben ihr gereicht hatte.

»Das ist doch kein Geist, das ist eine Schlange!«, erklärte Ben ernst.

»Aha«, murmelte Mutter und lächelte, während sie die Karottenschlange zu den Kartoffelgeistern in die Suppe gab. In diesem Moment betrat mein Vater die Küche und fragte: »Was gibt es zu essen?«

Todernst erwiderte meine Mutter: »Schlangensuppe.«

Ich werde nie das verdutzte Gesicht meines Vaters vergessen, als meine Mutter mit einem Lächeln hinzufügte: »Oh, natürlich mit einer Prise Gespenster. Genauso wie du es magst, Schatz!«

Ben und ich waren damals in Gelächter ausgebrochen, bis wir Bauchschmerzen hatten. Das Ziehen, das ich jetzt in meinem Bauch verspürte, kam nicht vom Lachen. Ich stützte mich auf einen der Küchenstühle. Ich musste mich setzen. Die schönen Erinnerungen waren noch so lebendig! Die Vergangenheit war in diesem Haus so zum Greifen nah, dass es wehtat.

Es waren unbeschwerte Tage gewesen in jenen Sommer. Ich hatte auch immer gerne an diesem Holztisch gesessen und meiner Mutter geholfen, das Essen vorzubereiten. Sie hatte mir früh beigebracht, einfache Gerichte zu kochen und es hatte mir immer viel Spaß gemacht. Ich fühlte mich damals sehr erwachsen und war glücklich gewesen, wenn meine Mutter mich gelobt hatte. »Das machst du sehr gut, Schatz. Ich bin stolz auf dich. Du bist schon ein richtig großes Mädchen«, hatte sie oft gesagt. In den letzten Jahren hatte ich das Kochen für unsere kleine Familie komplett übernommen, weil meine Mutter oft einfach nur da saß und vor sich hin starrte, wenn ich aus der Schule kam. Ich kochte sogar gerne, denn es gab mir ein Gefühl von Normalität und Geborgenheit. Oft wenn mein Vater dann abends nach Hause gekommen war, hatte ich ihn angelogen. »Sieh mal, was Mami für uns zum Abendessen gemacht hat«, sagte ich zu ihm. Er sah mich dann mit diesem verzweifelten Blick an und strich mir über den Kopf. Ich hatte mich wirklich bemüht, doch stolz war meine Mutter nie mehr auf mich gewesen.

Der Kloß in meiner Kehle wurde immer größer und nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. All die aufgestauten Gefühle strömten aus mir heraus. Ich war so wütend und fühlte mich so verzweifelt. Ich spürte, wie die Taubheit von mir wich – dieses Gefühl von Leere und Hilflosigkeit, als die Polizei anrief und mir mitteilte, dass meine Eltern ums Leben gekommen waren, weil ein betrunkener Fahrer eine rote Ampel überfahren hatte. Ich hatte es nicht glauben wollen. Die Beileidsbekundung des Beamten hatte durch das Telefon hohl und irgendwie falsch geklungen. Warum war niemand gekommen, um es mir persönlich zu sagen? Gehörte es sich nicht so, dass man die Hinterbliebenen persönlich aufsuchte? So hatte ich es nicht glauben wollen, bis zur Beerdigung. Wie ferngesteuert organisierte ich alles. Die Zeremonie hatte schlicht sein sollen. Meine Eltern wollten keine große Beerdigung. Ich erinnerte mich, dass ich bei der Trauerfeier etwas abseits stand. Die Freunde meiner Eltern und die wenigen Verwandten redeten über unsere Familie, als wäre ich nicht dort gewesen. Doch ich hatte jedes ihrer Worte gehört.

»Schrecklich«, hatte Großtante Gisela in ihr Taschentuch geschluchzt, »und man hat diesen Trunkenbold immer noch nicht gefasst. Was macht die Polizei. Wofür bezahlen wir Steuern? Sag doch auch mal etwas, Ulrich!«

Großonkel Ulrich hatte daraufhin etwas Unverständliches gemurmelt und verlegen zu mir herübergeschaut.

»Grausam, erst diese schreckliche Sache mit dem Sohn und wenige Jahre später sterben die Eltern«, hatte sich unsere Nachbarin Frau Buschmeier eingemischt.

»Na ja, seit der Sache damals, war die Familie sowieso so gut wie zerbrochen«, hatte Cousine Edda hinter vorgehaltener Hand getuschelt.

Ich hatte mich weggedreht, um sie nicht mehr hören.

Wie sehr hatte ich mir gewünscht, dass Ben bei mir gewesen wäre und mir Halt gegeben hätte. Doch Ben hatte mich schon lange verlassen. In jenem Sommer vor 10 Jahren in Schweden.


Kjell - das Geheimnis der schwarzen SeerosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt