An einem Freitagnachmittag bin ich mal wieder im Krankenhaus. Die Schulzeit ist schrecklich so ganz alleine und ich habe nicht die Kraft mit einer anderen Person zu sprechen. Daher erzähle ich einfach immer, wenn ich da bin alles, was passiert ist Noah. Doch es ist nicht das gleiche. Ich habe nicht einmal das Gefühl, dass er mir zuhört, wie es so häufig behauptet wird. Viel eher fühlt es sich so an, als würde er mich ignorieren. Und wie immer, wenn Noah mich in den vergangenen Jahren geärgert hat, werde ich sauer.
„Wollen wir doch mal sehen, ob ich dich nicht doch erreichen kann." Nachdem ich noch einmal nachgesehen habe, ob sich auch wirklich niemand in der Nähe befindet, setze ich mich bequem in meinem Stuhl hin, nehme Noahs Hand und schließe die Augen. Ich atme mehrfach tief durch, dann aktiviert sich auch schon meine Fähigkeit und ich bin eingeschlafen.
Erst fühlt es sich so an, als wäre ich unter Wasser und würde versuchen zu tauchen. Doch nach einigen Augenblicken komme ich dort an, wo ich hinwill. Am Rand von Noahs Traum. An diesem Ort, an welchen mich meine Fähigkeit immer führt, befindet sich nur schwärze und einige seifenblasenähnlichen Gebilde, in welchen sich die Träume all jener befinden, die gerade im Traumland sind.
Manchmal laufe ich einfach durch die Dunkelheit und schauen in die Seifenblasen. Es ist faszinierend zu beobachten, was in den Träumen meiner Mitmenschen vor sich geht. Ich kann hinein gehen, den Traum verändern oder zum Platzen bringen. All das liegt in meiner Macht. Doch diese nutze ich nur äußerst ungern. Denn wenn ich in Träume eindringe, dann fühlt es sich für mich so an, als würde ich in den geheimen Schubladen meiner Mitmenschen wühlen. Und das geht mich überhaupt nichts an.
Doch heute mache ich mal eine Ausnahme. Ich muss mit Noah sprechen. Ich muss wissen, wie es ihm geht oder ob er Hilfe braucht. Vielleicht kann ich ihm ja helfen! Noch einmal atme ich tief durch und halte dann eine Hand an die Wand der Seifenblase. Und dann lasse ich mich einfach hineinfallen.
Ich lande auf einer grünen Wiese, die Sonne scheint und ich scheine mich irgendwo in den Bergen zu befinden. Noah ist gerne in den Bergen, die hat er schon immer geliebt. Er wandert gerne und erfreut sich an der Natur. Ich kann das nicht nachvollziehen, ich bin eher so der Strandmensch, doch jedem das seine. Es wunder mich also nicht, dass mich sein Traum hier hinführt. Als ich weiterlaufe, kann ich schließlich eine kleine Berghütte erkennen. Dort muss Noah sein!
Freudig laufe ich etwas schneller, als eine Stimme ertönt, welche mich sofort anhalten lässt. „Was willst du hier?" Hinter einem Baum ist Noah aufgetaucht, welcher mich eher wütend als erfreut mustert. „Noah! Du liegst im Koma. Ich wollte dich zurück nach Hause holen!", gebe ich von mir und laufe auf ihn zu. „Du bist in meinem Traum. Du hast hier nichts verloren."
Irritiert schüttele ich den Kopf und kann meinen Ohren nicht trauen. Hat mir mein bester Freund überhaupt zugehört? „Aber Noah, das ist ein Notfall! Du liegst im Koma und musst unbedingt aufwachen!", versuche ich noch einmal auf ihn einzureden, doch noch immer scheinen wir aneinander vorbeizureden. „Wieso sollte ich das wollen?" Wütend verschränkt er die Arme vor seinem Körper und kommt nun eher aggressiv auf mich zu. „Weil da draußen das echte Leben auf dich wartet?", will ich ungläubig wissen und kann nicht glauben, dass diese Frage ernst gemeint gewesen ist.
Nachdenklich schaut Noah zu der Berghütte, welche sich noch in gut zwanzig Metern Entfernung befindet. Und aus welcher gerade eine Person tritt, die eine täuschende Ähnlichkeit mit mir hat. Mit offenem Mund schaue ich dort hin und kann nicht glauben, dass ich mich hier selbst sehe. „Du solltest gehen, Serina. Hier gibt es Dinge, die dich gar nichts angehen.", reißt mich Noah aus meinem Staunen und mit zusammengekniffenen Augen schaue ich zu ihm.
„Wieso bin ich in deinen Träumen? Warum kannst du nicht einfach aufwachen und wir können uns wieder normal miteinander unterhalten! Warum wirfst du unsere Freundschaft einfach so weg?", will ich wissen und schaue wieder zu mir selbst. Einem von Noah erdachten selbst von mir. In einem luftigen Kleidchen mit geflochtenen Haaren und barfuß. Etwas, was ich so nie anziehen würde. Das sollten wir eigentlich beide wissen.
„Das, was ich hier habe, kann mir die Realität nicht bieten! Und jetzt geh endlich!" Und damit wendet sich Noah von mir ab und geht zu seiner ausgedachten Version von mir. Welche sich ihm in die Arme wirft wie ein verliebtes Mädchen und nicht wie eine Schwester. Und nun erschließt sich mir der Unterschied zwischen der Realität und dem Traum.
Noah ist in mich verliebt und hier kann er in seiner perfekten Welt mit mir zusammen sein. Das würde in der normalen Welt nicht funktionieren. Weil er für mich wie ein Bruder ist. Erschrocken, verunsichert und zutiefst verstört wende ich mich ab und laufe so schnell ich kann davon. „Du belügst dich selbst!", brülle ich noch, dann bin ich auch schon verschwunden. Mit einem hektischen Luftholen wache ich wieder auf und entferne meine Hand sofort von seiner.
Dann springe ich auf, schnappe mir meine Sachen und laufe davon. Bis zum Fahrstuhl schaffe ich es meine Tränen zurückzuhalten, doch dann ist es um mich geschehen. Sie fließen einfach ohne mein Zutun herab und ich kann nicht anders als an das zu denken, was ich gerade erfahren hab. Wie konnte Noah nur?
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Schicksalshafte Begegnung - Die Traumwandlerin
FantasyDiese Geschichte baut rein zeitlich auf "Die Illusionistin" auf, muss aber vorher nicht gelesen worden sein. Dies hier ist ein weiteres Gedankenexperiment und daher vielleicht ein bisschen dramatisch hier und da. Aber ich versuche gerade ein bissche...