Angekommen

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Kapitel 14 - Angekommen


»Lass mich los«, keuchte ich und presste mich gegen Nathan, der absolut unbeweglich hinter mir verharrte.

»Was denn?«, säuselte er und der Hohn war kaum zu überhören. »Klein Henry spielt mit dem Feuer und plötzlich hat er Angst, sich zu verbrennen?« So langsam wurde der Druck des Regalbretts in meinen Handflächen echt unangenehm. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, seine körperliche Nähe so gut wie möglich auszublenden – genau wie seinen betörenden Geruch. Er ging eindeutig zu weit. »Mein Bruder ist der Meinung, dass wir dich mit Samthandschuhen anfassen müssen, damit du nicht zerbrichst; hat er recht?« Ich versuchte erneut, ihn von mir zu stemmen, jedoch ohne Erfolg. Er war nicht mal beeindruckt von meinen Bemühungen.
     »Ich weiß nicht, was du meinst«, hauchte ich und konnte nicht verhindern, dass mir ein kleines bisschen Angst den Nacken emporkroch. Ich dachte an den großen weißgrauen Wolf mit den riesigen Pranken und der spitzen Schnauze. Genau dieser Wolf presste sich gerade von hinten an meinen Rücken.
     »Vielleicht brauchst du gar keine Samthandschuhe«, murmelte er und ich hörte ein leises Rascheln, ehe ich seine Hand in meinem Haar spürte. Er drehte meinen Kopf so, dass ich seine Lippen an meinem Ohr spürte.
     »Ich respektiere Alistair zu sehr, um gegen seine Anweisung zu verstoßen, aber ich werde es tun, wenn du mich darum bittest.« Ich schnaubte, was er zum Anlass nahm, den Zug auf meine Kopfhaut zu verstärken.
     »Wenn du bereit dazu bist, wirst du mich um Entschuldigung und um eine Strafe für dein respektloses Verhalten bitten.« Ein heiseres Lachen entwich meiner Kehle und ich löste eine schmerzende Hand von dem Bücherregal vor mir, um sie auf seinen Arm über meinem Kopf zu legen.
     »Ich bin doch kein kleines Kind, das man bestrafen kann, nur weil es gesagt hat, was es denkt.«
     »Keine Sorge«, raunte er, was einen Schauer meinen Rücken hinab schickte. »Ich werde dich wie einen sehr erwachsenen Mann bestrafen.« Er ließ mich so urplötzlich los, dass ich taumelte, ehe ich herumwirbelte. Er stand mir lässig gegenüber, die Arme vor der Brust verschränkt, während ich ihn mit hochrotem Kopf und keuchend anstarrte. Was fiel ihm eigentlich ein, so mit mir umzugehen? Die eine Hälfte meines Gehirns wollte zur Polizei laufen und diesen Psychopathen am liebsten anzeigen, die andere Hälfte ... war verbotener, beschämenderweise neugierig. Neugierig, was sich hinter seinen Worten verbarg und wie es sich anfühlen würde, was auch immer er vorhatte. Ich war keine prüde Jungfrau und konnte mir ungefähr ausmalen, worauf er anspielte, aber das war... weder Alistair, noch Devon hatten bisher irgendwelche Andeutungen in so eine Richtung gemacht.
Bevor ich etwas Falsches sagen konnte, stürzte ich ohne ein weiteres Wort zur Tür, die mich zurück in den lichtdurchfluteten Flur führte. Bloß weg! Aus Angst, Nathan könnte es sich doch noch anders überlegen und mir nachstellen, beschleunigte ich meine Schritte.
     Gerade wollte ich ins Foyer einbiegen, als Devon um die Ecke bog und gerade noch so die Hände ausstreckte, um zu verhindern, dass ich ungefedert in ihn hineinlief.
     »Hey, nicht so schnell. Da bist du ja, ich habe gerade oben nach dir gesehen.«
     »Ich äh ... ja, sorry, ich ...« Er musterte mein Gesicht und eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Ich musste ein bizarres Bild abgeben – die Haare zerzaust, das Gesicht rot wie eine Tomate und stammelnd wie ein Kleinkind. Er brauchte nicht lang, um eins und eins zusammenzuzählen.
     »Nathan!«, donnerte er und wollte sich an mir vorbeischieben. Ich packte sein Handgelenk.
     »Nein nein nein«, flehte ich und blickte eindringlich zu dem großen Mann auf. »Bitte nicht! Es ist alles gut, wirklich.« Er brummte unzufrieden.
     »Du siehst nicht aus, als wäre alles gut«, bemerkte er trocken und schoss einen finsteren Blick den Flur hinab. Erleichtert atmete ich auf, weil er offensichtlich gewillt war, auf mich zu hören.
     »Doch doch, wirklich. Komm schon.« Ich zog an seinem Handgelenk, was ihn aber genauso wenig beeindruckte, wie meine körperlichen Anstrengungen vorher Nathan beeindruckt hatten.
     »Hattest du mir nicht Pfannkuchen versprochen?« Das fing seine Aufmerksamkeit wieder ein und er musterte mich noch einmal eindringlich.
     »Na schön. Auf geht's, ich habe den Teig schon angerührt.«
     »Wo ist Alistair?«, wollte ich wissen, während ich Devon in die Küche folgte.
     »Der telefoniert noch mit Jeannine, unserer Beta. Es sollte aber nicht mehr lange dauern«, erklärte er und hob mich, als wöge ich gar nichts, hoch, um mich auf die Kücheninsel zu setzen. Ich grinste bei der Erinnerung an das letzte Mal, als er mich auf die Küchenanrichte gesetzt hatte.
     »Als könntest du Gedanken lesen«, murmelte er und schob sich zwischen meine Beine, nur um meine Lippen mit seinen zu verschließen. Ich seufzte genüsslich und ließ mich gegen ihn sinken. An das Gefühl könnte ich mich wirklich gewöhnen. Wärme durchströmte meinen ganzen Körper und mein armer Blutdruck, den Nathan so unverschämt in die Höhe getrieben hatte, beruhigte sich etwas.
     »Du schmeckst einfach himmlisch«, murmelte er. »Einfach alles von dir.« Er zwinkerte und ich fuhr mir verlegen mit der Hand durch den Nacken.
     »Wann darf ich denn euch berühren?«, wollte ich etwas schüchtern wissen.
     »Darf?« Devon löste sich von mir und holte eine Pfanne aus dem Schrank.
     »Bisher habt ihr mich mit euren ... Zuwendungen immer so ausgeknockt, dass ich keinerlei Gelegenheit hatte, mich zu revanchieren.« Mein Mund wurde ganz trocken bei der Vorstellung, Devon oder Alistair auf die gleiche Weise zu beglücken, wie sie mich.
     »Ich kann dir gar nicht sagen, was die Vorstellung in mir auslöst«, entgegnete er und als er mich ansah, sah ich das gelbe Leuchten in seinen Augen, das mir jetzt schon ein paar Mal an ihnen aufgefallen war. Ich schnappte nach Luft. »Aber ich weiß nicht, ob mein Verlangen, dir Freude zu bereiten schon genug gestillt ist, um brav stillzuhalten.« Nathans Worte schossen mir durch den Kopf und ich überlegte, wie ich Devon am besten darauf ansprechen könnte, während er Butter in die Pfanne gab und die Dunstabzugshaube anschaltete.
     »Habt ihr eigentlich bestimmte ... Vorlieben?« Ich hoffte halb, dass das Rauschen zu laut war, um mich zu verstehen, aber seine übernatürlichen Ohren hörten natürlich jedes Wort.
     »Hm, gute Frage. Über die Jahre hinweg probiert man ziemlich viel aus und ich würde einfach mal pauschal sagen, dass wir immer offen für alles geblieben sind, keiner von uns hat sich wirklich auf irgendwas eingeschossen, auch wenn jeder natürlich seinen eigenen ... Stil hat.« Darüber dachte ich eine Weile nach. Hätte Devon mir an der Stelle die Wahrheit gesagt, falls Nathan ein übler Sadist war? Schwer zu sagen.
     »Alistair und du, ihr hattet schon ... du weißt schon ... mit Männern?« Er warf mir einen prüfenden Blick über die Schulter hinweg zu, ehe er antwortete: »Ja, wir haben schon immer die Ansicht vertreten, dass Lust und Gefühle nicht an ein Geschlecht gebunden sind, zumindest für uns nicht.« Ein kleiner Stich durchfuhr mich. Bei ihrem Aussehen, ihrem Charme und ihren Fähigkeiten hatten sie bestimmt hunderte, wenn nicht tausende Liebhaber und Liebhaberinnen gehabt. Hinter ihnen war ich Lichtjahre zurück. Wollten sie mich deshalb in der passiven Rolle lassen, damit ich erstmal von ihnen lernen konnte, bevor ich direkt etwas Falsches machte?
     »Worüber zerbrichst du dir schon wieder den Kopf?«, wollte er wissen, während er den Ahornsirup holte. Ich seufzte theatralisch und ertappte mich wieder dabei, wie ich verlegen mit der Hand über den Nacken fuhr. Der köstliche Geruch von Pfannkuchen breitete sich in der Küche aus.
     »Ich hab einfach keine Ahnung, was ich tue«, gestand ich. »Ich habe noch nie ... selbst mit Frauen nicht wirklich oft. Im Vergleich zu euch bin ich blutiger Anfänger.« Devon kam wieder zu mir und strich mit der flachen Hand über meine Brust, ehe er mich küsste.
      »Falls es dich tröstet, wir hatten nicht so viele Partner, wie du dir wahrscheinlich in deinem besorgten Köpfchen gerade ausmalst. Spätestens seit wir zu dritt sind«, er machte eine Pause und legte sich die nächsten Worte zurecht. »Ist es ohnehin immer etwas schwierig gewesen. Keiner von uns kann Sex haben, ohne dass die anderen beiden eine gute Portion davon mitbekommen, was selten fair dem ahnungslosen Partner gegenüber ist, aber die wenigsten finden es amüsant, es gleich mit drei Alphas auf einmal aufnehmen zu müssen. Selbst wenn sie nicht wissen, wer oder was wir sind, kann unsere Präsenz manchmal etwas ... erdrückend sein für normale Menschen.« Tatsächlich schafften es seine Worte, dass ich mich etwas besser fühlte.
      »Aber untereinander«, begann ich, doch er unterbrach mich direkt mit einem lachenden Kopfschütteln.
     »Nein nein, ich meine es so, wenn ich sage, dass Al und Nathan wie meine Brüder sind. Ich teile alles mit ihnen, meine Gedanken, meine Gefühle, meinen Gefährten«, seine Stimme brach bei dem letzten Wort und er schenkte mir einen sehr intensiven Blick aus seinen umwerfend grünen Augen. »aber ich habe keinerlei Bedürfnis, mit ihnen Intimitäten auszutauschen.«
     »Keine Sorge Devon, das kann ich ebenfalls entschieden verneinen«, ertönte Alistairs gut gelaunte Stimme hinter uns. Ich fuhr zusammen und Devon lachte leise.
     »Du musst wirklich an deinen peripheren Sinnen arbeiten, Kleiner.« Ich brummte etwas, während der schwarzhaarige Gott mit den strahlenden Augen in meinem Blickfeld auftauchte. Ich hatte ihn seit gestern Abend nicht gesehen und mein Herz hüpfte direkt in meiner Brust, weil ein Teil von anscheinend vergessen hatte, wie anziehend er wirklich war.
     »Guten Morgen, hast du gut geschlafen?«, wollte er wissen und lehnte sich zu mir, um mir einen sanften, aber züchtigen Kuss zu geben. Die Geste war seltsam vertraut zwischen uns, so als hätten wir uns schon die letzten zwanzig Jahre jeden Morgen einen Gutenmorgenkuss gegeben. Nur bezweifelte ich, dass mein Herz in zwanzig Jahren immer noch so einen Salto schlagen würde.
     »Sehr gut«, antwortete ich ehrlich und lächelte ihn an. »Wie war dein Telefonat, war es wegen des anderen Alphas?« Er gab mir einen weiteren Kuss, diesmal auf die Stirn, ehe er an den Schrank mit den Tellern ging. Schuldbewusst ließ ich die Beine baumeln. Das hätte ich auch machen können, anstatt Devon mit meinen Fragen zu löchern.
      »Darum musst du dir keine Sorgen machen«, entgegnete er. »Wir haben alles im Griff. Deine einzige Sorge muss aktuell sein, dir zu überlegen, was du heute machen möchtest.« Ich schaute ihn etwas ratlos an. Was ich machen wollte? Der große Gustav kam in dem Moment um die Ecke geschlappt und stupste Alistair auffordernd mit der Schnauze ans Bein. Er lachte und streichelte dem großen Tier liebevoll den Kopf.
     »Oh nein mein Großer, ich weiß genau, dass du schon Frühstück hattest.« Sicherheitshalber probierte er es nochmal bei seinem anderen Herrchen, doch der grinste nur vergnügt.
     »Ich bin der, der dir Frühstück gegeben hat, Dummerchen.« Damit hatte sich das Thema für Gustav erledigt, der sich schnaufend auf den Boden sinken ließ, wo er wie ein riesiger schwarzer Teppich liegen blieb. Der Regen der letzten Nacht war abgeklungen und es hatte sich dichter Nebel gebildet, der aber schon dabei war, endgültig von der Sonne verdrängt zu werden.
     »Ich würde...« Nervös fuhr ich mir mit der Zunge über die Unterlippe. »Ich würde dich gern mal sehen.« Neugierig drehte Devon sich zu mir.
     »Mich sehen?« Ich schluckte.
     »Deinen Wolf.« Er war der Einzige von den dreien, den ich noch nicht in seiner Tiergestalt gesehen hatte. Ein breites Lächeln erschien auf seinen sündhaft geschwungenen Lippen.
     »Es wäre mir eine Ehre, euch miteinander bekannt zu machen.«
     »Du verdaust das Ganze wirklich erstaunlich gut«, bemerkte Alistair. »Ich habe nicht viel Erfahrung damit, hätte aber vermutet, dass du ein paar Tage oder Wochen Abstand von uns brauchen würdest.« Ich fuhr mir mit der Hand durch den Nacken. So absurd es auch war, das letzte, was ich wollte, war Abstand von diesen beiden Männern. Und wenn sie dreiköpfige Drachen wären, etwas in mir zog mich zu ihnen hin wie einen Magneten. Natürlich war es schwer zu verkraften, was mir gestern offenbart wurde, aber wenn das dazu führte, dass ich dieses unergründliche Verlangen in mir stillen durfte? So what? Okay, vielleicht nicht ganz, aber ich würde nicht den Kopf unter den Arm klemmen und davon rennen! Ein Geräusch durchbrach die Stille und ließ mich aufschrecken. Das Klingeln klang vage vertraut und als mir bewusst wurde, dass sowohl Alistair, als auch Devon mich erwartungsvoll anstarrten, runzelte ich die Stirn. Okay, irgendwas wurde von mir erwartet.
     »Henry, dein Telefon!« Ich zuckte zusammen. Mein Telefon? Mein Telefon! Ich hatte beinahe vergessen, dass ich überhaupt eins besaß. Wie konnte man so verpeilt sein? Hastig ließ ich mich von der Küchenarbeitsablage gleiten und hastete in die Richtung, aus der der Klingelton kam, bis ich das kleine Gerät auf einem Beistelltisch im Foyer – freundlicherweise an ein Ladekabel gehängt – fand.
     Im Display stand in großen Buchstaben: »Mom«. Ich schluckte und war schon drauf und dran, das Telefon einfach stumm zu stellen und wegzugehen, bevor ich stockte. Seit ich ausgezogen war, hatte ich nicht mehr mit ihr gesprochen, ich war mir nicht mal sicher, ob ich ihr gesagt hatte, wo ich hingehen würde. Warum also rief sie jetzt an? Was, wenn es etwas Ernstes war, wenn sie oder meine Schwester krank waren oder einen Unfall hatten? Komm schon, du willst gleich mit zwei Werwölfen Pfannkuchen essen, du wirst ein Telefonat mit deiner Mutter überstehen! Zähneknirschend nahm ich das Gespräch an.
     »Hallo?«, meldete sich die vertraute Stimme meiner Mutter und es zog schmerzlich in meinem Bauch. Manchmal fiel es mir immer noch schwer, sie nicht zu vermissen, trotz allem, was sie getan – oder besser nicht getan – hatte.
     »Hi Mom.« Stille. So lang, dass ich schon bereute, überhaupt rangegangen zu sein.
     »Wie ... wie geht es dir?«, fragte sie dann nach einer Weile zögerlich.
     »Gut, sehr gut. Und dir?«
     »Schön, das freut mich zu hören. Du bist in Colorado, oder?« Wenigstens triefte das schlechte Gewissen aus jeder Silbe. Ich nickte, bevor ich mich erinnerte, dass sie mich ja nicht sehen konnte.
     »Ja, in Covington.«
     »Schön«, wiederholte sie. »Und ... hat das College schon angefangen?«
     »Ja, die ersten zwei Wochen sind rum.«
     »Ist es spannend?« Alles in mir sträubte sich dagegen, ihr von diesem Studium zu erzählen. Immerhin war das der Grund für das Zerwürfnis gewesen. Obwohl, eigentlich war es nicht der Grund, eher die Kirsche auf der Sahne eines Pfades, den meine Eltern schon mein ganzes Leben lang beschritten hatten.
     »Sehr«, war deshalb alles, was ich dazu sagte.
     »Mhm«, machte sie und es herrschte wieder Stille. Ich seufzte innerlich. Musste sie mir wirklich den schönsten Sonntag meines Lebens vermiesen?
     »Mom, wenn du -«
     »Katherine hat die Grundausbildung geschafft«, platzte es aus ihr heraus, so als hätte sie vorher die ganze Zeit überlegt, ob sie es mir sagen sollte oder nicht. Mein Atem stockte. Katherine, die schon ihr ganzes Leben lang versuchte, der Sohn für unseren Vater zu sein, den er sich immer gewünscht hatte. Leider hinderten ihre Brüste und ihre langen Haare sie daran, ihm diesen Traum zu erfüllen. Wenigstens hatte sie es jetzt in den Marinekorps geschafft.
     »Das ist toll«, kommentierte ich, mit hörbar wenig echter Begeisterung.
     »Wilma, mit wem redest du!?« Das Blut gefror mir in den Adern, als die wie gewöhnlich charmante Stimme meines Vaters im Hintergrund ertönte.
     »Hör zu, ich leg jetzt auf. Lass uns -«
     »Schon okay«, murmelte ich und legte meinerseits auf. Eigentlich war es mir ein Rätsel, warum ich sie manchmal noch vermisste. Im Grunde vermisste ich nicht sie, sondern die abstrakte Vorstellung einer Mutterfigur, die ich nie gehabt hatte. Vielleicht sollte ich Devon fragen, ob ich ihn Daddy nennen durfte. Der Gedanke führte zumindest dazu, dass sich meine Mundwinkel wieder etwas hoben.
»Willst du darüber reden?«, fragte Alistair, als ich das Esszimmer betrat. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
     »Ihr habt alles gehört, oder?« Er blickte schuldbewusst drein und ich seufzte. An den Verlust von Privatsphäre musste man sich wohl gewöhnen, wenn man sich mit übernatürlichen Menschen in einem Haus aufhielt.
     »Nein, nicht wirklich«, antwortete ich auf seine Frage und setzte mich vor meinen leider nicht mehr dampfenden Teller Pfannkuchen. Immerhin hatten die beiden solidarisch auf mich gewartet.
     »Ihr habt also besonders gute Ohren, was habt ihr noch für Fähigkeiten?«
     »Außer dass wir uns in große Hunde verwandeln?« Ich verdrehte die Augen.
     »Ja, in eurer Menschengestalt.« Alistair überlegte eine Weile, während er sich Pfannkuchen in den Mund schob.
     »Hm, manchmal neigen wir dazu, zu vergessen, was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein, wir sind schon so lange, wie wir sind. Unser Geruchssinn ist auch in menschlicher Gestalt sehr stark, wir haben nur sehr wenig Nachtblindheit und wir sind wesentlich robuster und stärker als die meisten Menschen.«
     »Das ist so cool«, staunte ich mit vollem Mund und schluckte hastig herunter. Fast wie in einem Superheldenfilm.
     »Erzähl uns lieber mal ein bisschen was über dich«, forderte Devon, was mich veranlasste, das Gesicht zu verziehen.
     »Das ist wirklich nicht annähernd so interessant oder spannend.« Da er aber nicht locker ließ, verbrachten wir den Rest des Frühstücks mit langweiligen Kindheitsgeschichten, die ich wenig enthusiastisch erzählte. Es gab nur wenige Aspekte meiner Kindheit in New Mexico, auf die ich gern zurückblickte.
Meine Laune besserte sich erheblich, als Alistair sich nach dem aufräumen zum Einkaufen verabschiedete und Devon vorschlug, er könnte mir den Garten zeigen. Das Glänzen in seinen Augen verriet mir, dass er meine Bitte nicht vergessen hatte.
     Im Vergleich zum Haus war der Garten relativ unspektakulär – im Wesentlichen war es eine riesige gepflegte Rasenfläche, mit vereinzelt Apfel- und Kirschbäumen darauf. Aber wir wussten beide, dass wir nicht hier rausgekommen waren, um frische Luft zu schnappen. Völlig schamlos begann er, sich vor meinen Augen auszuziehen – erst der Pullover, dann die Jogginghose, bis er nur noch in Boxershorts vor mir stand. Mein Puls beschleunigte sich und ich spürte, wie mein Schritt bei dem Anblick seiner steinharten Bauchmuskeln zu kribbeln begann. Dieser Mann war Sex auf zwei Beinen. Als auch noch die letzte Schicht fiel, konnte ich nicht anders, als zu starren. Wirklich jeder einzelne Zentimeter an seinem Körper war Perfektion, jeder.
     Die Verwandlung selbst war erschreckend, aber auch so schnell, dass man kaum Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, was man gerade gesehen hatte. Als er sich schließlich vor mir aufrichtete, hielt ich die Luft an und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf den Wolf vor mir. Er sah so anders aus als Alistair und Nathan. Sein Fell war rotbraun, mit einer gleichmäßigen schwarzen Maserung auf dem Rücken und dunklen Zeichnungen im Gesicht. Nur seine Pfoten wurden nach unten hin immer heller, bis sie ein rötliches Weiß waren. Wenn ich schon gedacht hatte, dass die anderen beiden riesig gewesen waren, musste ich das überdenken. Wo seine Brüder elegant und kantig gewesen waren, war Devon einfach ... massig. Seine Pranken erinnerten an die eines Bären, seine Schnauze war breiter als die der anderen und sein Fell struppiger.
     Mein Atem ging flach, als er einen Schritt auf mich zu machte. Und noch einen. Tapfer blieb ich stehen, obwohl ich nicht leugnen konnte, dass ein nicht unbedeutender Teil in mir danach schrie, mich umzudrehen und davonzulaufen.
     Ich streckte die Hand aus und wartete, bis er mir mit seinem Kopf ein wenig entgegenkam, ehe ich die Finger über sein haariges Gesicht fahren ließ. Wow. Ich fuhr über seine Stirn, bis hin zu den Haarbüscheln, die ihm aus den spitzen Ohren wuchsen.
     »Du bist wunderschön«, murmelte ich und meinte es auch so. Er war Kraft, Eleganz, Macht, Dominanz und Ruhe auf einmal. Er schmiegte sich in meine Handfläche und gab ein Geräusch von sich, das meinen Arm zum Vibrieren brachte. In dem Moment klickte etwas in meinem Inneren, rutschte an seinen richtigen Platz. Bis gestern hatte ich vielleicht nicht gewusst, dass Gestaltwandler wirklich existieren, aber ich war genau hierfür geschaffen. Für diesen braunen Wolf, den schwarzen ... und den weißen. Mein ganzes Leben lang hatte ich nie das Gefühl gehabt, irgendwo dazuzugehören. Weil ich schon immer hier dazugehört hatte.

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