Kapitel 1

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Die Klänge einer leicht verstimmten Mandoline erfüllten das Deck. Der Wind rauschte durch ihre Haare und das Meer schickte seine Laute, um das Lied, dass aus Henrys Mund kam, zu untermalen.

Wenn er denen, die ihm gastlich waren,
spät, nach ihrem Tage noch, da sie
fragten nach den Fahrten und Gefahren,
still berichtete: er wußte nie,

wie sie schrecken und mit welchem jähen
Wort sie wenden, daß sie so wie er
in dem blau gestillten Inselmeer
die Vergoldung jener Inseln sähen,

deren Anblick macht, daß die Gefahr
umschlägt; denn nun ist sie nicht im Tosen
und im Wüten, wo sie immer war:
Lautlos kommt sie über die Matrosen,

welche wissen, daß es dort auf jenen
goldnen Inseln manchmal singt -,
und sich blindlings in die Ruder lehnen,
wie umringt

von der Stille, die die ganze Weite
in sich hat und an die Ohren weht,
so als wäre ihre andre Seite
der Gesang, dem keiner widersteht.

Kellan hatte dieses Lied schon so oft gehört, denn es gab es schon seit Generationen – die Überlieferung über die sagenhaften Wesen, deren Stimme jeden Seefahrer in den Tod lockte. Eine Melodie, der niemand widerstehen konnte, hieß es. Doch sollten diese Geschichten Wirklichkeit sein, denn es hatte Sichtungen gegeben. Einbildung? Vielleicht. Es gab immer wieder Idioten, die sich wichtigmachen wollten oder im Suff Dinge einbildeten, doch er würde dem nachgehen. Das war die Anweisung seines Vaters gewesen – der König der Piratenbande, die den Süden des Reiches beherrschte.

Der Wind ließ sein kurzes rotes Haar zu allen Seiten fliegen. Sein Grinsen leuchtete so hell wie seine hellbraunen Augen mit einem gelblichen Schimmer und den goldenen Ring in seinem linken Ohr. Er war der Kapitän des Schiffes, welches sich auf die Jagd nach der Sirene machen sollte. Sein weißes Hemd steckte locker in seiner braunen Lederhose, verdeckte jedoch kaum seinen muskulösen Körperbau. Er war nicht umsonst in dieser Position, da er der beste Schwertkämpfer der Flotte war – seit seinem vierzehnten Lebensjahr ungeschlagen. Sein Schwert steckte in einer Scheide an seiner rechten Hüfte, da er Linkshänder war – noch eine Besonderheit.

„Der alte Henry läuft heute wieder zur Höchstform auf, nicht wahr Kel?", erklang die belustigte Stimme seines besten Freundes von links. Chesney war ein Jahr älter als er selbst, doch sie kannten sich schon seit sie krabbeln konnten. Er hatte lange schwarze Haare, die er mit einem Lederband zu einem Zopf zusammengefasst hatte. Seine dunklen Augen ließen ihn exotisch wirken, denn er hatte im Gegensatz zu vielen Piraten eine helle Haut. Kellans dagegen war leicht gebräunt. Ches trug ebenfalls einen goldenen Ring, nur im linken Ohr. Das war ein Zeichen ihrer Freundschaft.

„Das stimmt, Ches. Doch ich liebe diese Atmosphäre." Den Frieden.

Seine Mannschaft waren alles loyale und rüstige Piraten, wobei auch einige weibliche Mitglieder dabei waren. Bei ihnen fand im Gegensatz zu anderen Banden keine geschlechtliche Diskriminierung statt. Grund dafür war unter anderem auch seine Mutter, die gefürchteter war als sein eigener Vater. Ja, dieser Furie möchte man keinen Grund geben, ihr Schwert zu ziehen. Sie hatte ihren Vater damals mehr als deutlich in einem Kampf besiegt. Daraufhin hat er ihr einen Antrag gemacht.

„Wir sollten morgen früh ankommen, Kel. Ruh dich am besten aus, da wir nicht wissen, was uns auf der Sireneninsel erwarten wird", sagte Ches und klopfte seinem besten Freund auf die Schulter.

Kellan lächelte nur und nickte. Er ging in seine kleine Kajüte, die genauso groß wie die der anderen war. Er erhielt keine Vorzugsbehandlung, nur weil er der Captain war. Ob ich morgen wohl eine Sirene finde? Das wusste nur das Meer, das er so sehr liebte.

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Rilke, R. M.: Der neuen Gedichte anderer Teil. Die Insel der Sirenen. Hofenberg Verlag: Leipzig 1908.


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