Kapitel 1

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Masken. Jeder trägt eine Maske. Niemand zeigt sein wahres Gesicht. Er schaute hinter die Masken, enthüllte das, was sie zu verbergen versuchten. So oft war er einem Lügengeflecht gegenüber gestanden, doch hatte sich nicht täuschen lassen. Ausgeprägte Sinne und ein scharfer Verstand, das hatte Andrew zu einem verdammt guten Agenten werden lassen. So gut, dass das FBI ihn angeheuert hatte – spezialisiert auf Morde mit außergewöhnlichem Hintergrund.

Seine Hand lag auf der Akte, die ihm heute Morgen übergeben worden war. Ein Mord. Doch dieser war anders, nicht gewöhnlich. „Madeleine und Clayton O'Conner, verheiratet und Ende Fünfzig. Beide mit einem Messer getötet. Ältester Sohn der Familie ist bei einem Unfall im Alter von neun Jahren gestorben. Zweiter Sohn ist im Alter von Vierzehn als vermisst gemeldet worden." Das war nun über sechs Jahre her. Vor zwei Jahren hatten sie ein Pflegekind angenommen, dieses war jedoch beim Schwimmen ertrunken.

Diese Geschichte klang nicht normal, denn die Kinder in dieser Familie schienen nicht lange zu überleben. Die örtliche Polizei hatte die Schule und Nachbarn befragt. Alle hatten dasselbe gesagt. Es waren zwei herzensgute Menschen, die ihre Kinder sehr geliebt hatten.

„Warum wurdet ihr dann getötet?" Nicht nur das. Den beiden waren Worte in die Stirn geritzt worden.

»Mörder. Kinderquäler.« Das hatte dort gestanden. Ihnen waren die Hände post mortem abgeschnitten und neben den Leichen platziert worden.

All das klang grausam, als sei ein Psychopath am Werk gewesen, doch etwas war seltsam. Der Tod war schnell gewesen, die Opfer hatten nicht leiden müssen. Zudem hatte es bei dem Mann Kampfspuren gegeben, als hätte er sich gegen den Mörder gekämpft.

Natürlich war ihm als erster der verschwundene Sohn eingefallen. Ihm gegenüber hatte er Recherchen angestellt, doch es hatte sich keine Spur ergeben. Der Kollege der IT hatte über eine öffentliche Kamera etwas gefunden. Es war ein Foto. Ein Foto von einer Person, etwa 1,70 m groß, schlank mit dunkelbraunen Haaren, die ihm bis in den Nacken fielen. Er hatte eine schwarze Maske getragen, die Mund und Nase bedeckte, und ein Pony hatte die Augen verdeckt. Dazu hatte diese einen weiten dunkelgrauen Hoodie mit einer Kapuze getragen, sodass die Figur nicht eindeutig abzuschätzen war.

Leider war das Foto nicht von der Qualität gewesen, die er sich gewünscht hatte, doch das ließ sich nicht ändern. Clint hatte es durch die Datenbanken gejagt und tatsächlich einen Treffer gehabt. Andrew schaute auf das Foto vor sich – ein Bild einer Überwachungskamera mit einem Zeitstempel, der nicht einmal eine Stunde alt war. Es zeigte die besagte Person, nur dass er nun die Augen sehen konnte, auch wenn der Pony sie immer noch teils verdeckte. Die Aufnahme stammte aus Atlanta, was von dem Tatort etwa eineinhalb Stunden entfernt war.

„Dann wollen wir auf die Jagd gehen", sagte er und packte alles zusammen.

Warum interessierte sich das FBI für einen Mord im Nirgendwo? Die Antwort war, die Person, die das Ehepaar ermordet hatte, hatte eine Akte mitgenommen, die die Mutter aufbewahrt hatte. In dieser standen streng vertrauliche Informationen. Wie diese Akte in die Hände der Frau gekommen war, war ungeklärt, doch sie war in deren Besitz gewesen. Nun hatte sie die Person mit der Maske.

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Die Tür öffnete sich und ein kalter Windzug begrüßte Mason. Die Tage wurden kühler und er war froh, dass er einen warmen Hoodie trug. Mit beiden Händen schleppte er den Müllsack zu dem großen Container, in den er ihn mit viel Schwung verfrachtete. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Er arbeitete nun schon seit fünf Jahren in der Bar, war eine Küchenhilfe und Mädchen für alles. Damals hatte er nicht viel Wahl gehabt, denn jemanden ohne Fragen, Abschluss oder Ähnliches einzustellen, taten nicht viele. Dank dem Job konnte er sich eine kleine Einzimmerwohnung leisten und kam gut über die Runden.

Seine Füße trugen ihn wieder zur Hintertür, die er mit einem Ruck öffnen musste, da diese ihn als Feind auserkoren hatte. Er lief direkt in die Küche, als er das Piepen der Spülmaschine hörte, und öffnete sie. Wasserdampf traf auf sein Gesicht und ließ ihn kurz husten.

Klasse.

Er brachte die Schicht schnell hinter sich und lief um halb drei nachts nach Hause. Die Lampen flackerten oder waren teilweise zu ramponiert, sodass sie aus waren. Ruhig. Niemand hatte Interesse an ihm oder er wurde seltsam angeschaut. Grund dafür war die schwarze Maske, die Mund und Nase bedeckte. Die meisten dachten, er wäre krank und wolle andere nicht anstecken, andere, er hätte irgendwelche Narben, die er verstecken möchte. Es war nichts von beidem. Sie war ein Schutz. Ein Schutz vor anderen, denn niemand konnte seine Mimik lesen. Sie ersetzte die Maske, die er so lange hatte tragen müssen, weshalb er nie ohne aus dem Haus ging.

Die Clubbesitzer tolerierten es, denn er arbeitete nur im Hintergrund. Sein Vermieter juckte es nicht, solange er pünktlich seine Miete zahlte. Seine Beine trugen ihn zu der Haustüre des Blocks, in dem seine Wohnung war. Müll lag im Eingangsbereich und ein Briefkasten war aufgebrochen, doch das war Standard. Er schloss die Türe auf und direkt wieder ab, damit niemand in das Haus kommen konnte. Dann erklomm er die Stufen der Treppe, bis er im zweiten Stock ankam.

Pro Stockwerk gab es drei Wohnungen. Er hatte die ganz links. Neben ihm war vor einer Woche ein neuer Mieter eingezogen. Diesen hatte er nur kurz gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Ihre Zeiten waren unterschiedlich und wenn er ehrlich war, wollte er mit niemandem reden.

Erschöpft ging er unter die Dusche – die einzige Zeit, in derer keine Maske trug, in der er sich nackt und verletzlich fühlte. Erschöpft trocknete er sich ab, zog eine neue schwarze Maske auf und legte sich auf das Bett, rollte sich in die Decke ein. Heute keine Albträume, bitte. Jeden Abend hoffte er darauf, jeder Abend war ein neuer Versuch. Langsam schloss er die Augen.

༻✧༺

„Ach komm schon, mein Sonnenschein. Lächle."

Er schaute in die Augen, seine Mundwinkel zogen sich nach oben und ein Lächeln trat auf seine Wangen. Er hatte es so oft geübt, hatte vor dem Spiegel gestanden, die Verzweiflung stand in seinen Augen. Bitte. Bitte lass es echt aussehen.

Sekunden vergingen und die Hoffnung stieg. Seine Mutter war zufrieden?

Dann kam die Hand. Sie traf auf seine Wange und sein Kopf flog zur Seite. „Wie kannst du es wagen, mich so anzuschauen?"

Ihre Stimme war laut. Dann erklangen die lauten Schritte. Er begann am ganzen Körper zu zittern, denn die Angst hatte ihn im Griff. Er wurde am Arm gepackt und durch das Zimmer geschleift, in einen Schuppen, in dem ein Teich war.

„Nein, bitte nicht. Es tut mir leid", schrie er, versuchte zu entkommen. Doch er würde nicht entkommen. Nicht heute, so wie er auch die Male davor nicht entkommen war. Grob wurde er am Kopf gepackt.

„Du lernst deine Lektion noch", erklang die kalte männliche Stimme, die ihn nachts nicht schlafen ließ. Dann wurde sein Kopf unter Wasser gedrückt.

༻✧༺

Schreiend schoss Mason nach oben. Sein Herz schien aus der Brust springen zu wollen, Panik verhinderte, dass seine Lungen genügend Sauerstoff erhielten. Zitternd schaute er auf seine Hände, sah die roten Flecken. „Sie sind tot. Sie können niemandem mehr etwas antun." Er umschlang sich selbst, wippte vor uns zurück. „Sie sind tot", flüsterte er immer wieder wie ein Mantra.

Das Licht seiner Lampe beruhigte ihn. Dies brannte immer, denn in Dunkelheit konnte er nicht schlafen. Wenn er die Augen öffnete, musste er sehen, wo er war, dass er nicht mehr in dem Schrank eingesperrt war. Dass er nicht mehr in diesem Albtraum war.

Seine Augen wanderten zu der Wand, über die er mit der Hand fuhr. Die kalte raue Oberfläche ließ ihn weiter zur Ruhe kommen. Dann fuhren sie weiter nach unten. Zwischen Nachttisch und Wand befand sich ein Schlitz mit einem Umschlag, den er hervorzog. Er war glatt und schimmerte im Licht der Lampe. Rote Buchstaben standen auf diesem, die er nicht verstand. Doch das Wort »vertraulich«, das verstand er.

Mason wusste, dass dieser Umschlag wichtig für sie gewesen war. Dennoch hatte er ihn noch nicht geöffnet, war nicht bereit zu erfahren, was in diesem stand. Was, wenn dort etwas war, was ihre kranken Seelen beherbergte? Mit den Fingern fuhr er zum oberen Teil. Nein. Auch heute würde er nicht in diesen schauen, also steckte er ihn zurück, schob ihn in einen Spalt in der Wand, den niemand finden würde, wenn er nicht explizit danach suchte.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt