Ein Reisebericht

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Ich stieg aus dem Zug. Das war der grausame Fehler, mit dem Alles begann.
Denn ich hätte noch gar nicht aussteigen sollen. Und das hatte ich gewusst.
Ja, das war böse Absicht.

Normalerweise bin ich nicht so. Ich meine, "so". Ihr wisst schon, nicht? Sicher wisst ihr das.
Ich bin nicht so spontan, so leichtsinnig, so gutgläubig, so verwirrt und so schlampig, wie es in den folgenden Zeilen vielleicht ab und zu rüberkommen mag. Ich bin so eigentlich gar kein kleines fitzelfutzi bisschen.
Aber in letzter Zeit, da bin ich auch immer weniger Ich selbst. Da bin ich viel zu häufig diese egozentrische Hure, die ich nie sein wollte. Deshalb handelt dieser Reisebericht nämlich auch zum Großteil von mir. Damit ich ihn immer wieder durchlesen und mich daran aufgeilen kann.
...Nein, das war gelogen.

Und ich möchte mich bei den Leuten entschuldigen, die ich an dem Tag so plötzlich sitzen gelassen habe. Das tut mir leid. Wirklich. Ich plädiere für die gute alte Guillotine. Es geht um den Kopf.

Also dann. Wir spulen zehn Minuten vor.

Plan- und orientierungslos lief ich durch die fremde Stadt, schaute mir die Schwebebahn und den immer noch währenden Weihnachtsmarkt an. An einem Platz vor einem kirchenähnlichen Gebäude, setzte ich mich auf eine der leeren Bänke und beobachtete die vorbeigehenden Leute.
Ein Mann brachte einer jungen Frau Fahrradfahren bei. Sie fiel hin, immer und immer wieder. Beide lachten. Ein Kerl, mitte zwanzig, lief ununterbrochen mit den Händen tief in den Taschen vergraben über den Platz. Hin und her. Her und hin. Sah aus wie ein Dealer, fast hätte ich ihn angesprochen.
Irgendwann setzte sich ein älterer obdachloser Mann neben mich und stellte seinen Rucksack auf den Boden. Etwa zwei Stunden vergingen - und schweigend saßen wir da. Die Worte floßen nicht umher, wurden nicht lieblos in die raue Luft gespuckt. Aber die Gedanken, die schwebten. Es war ein sehr nettes Gespräch.
Nach einiger Zeit wurde es uns doch zu kalt und jeder stand auf, verabschiedete sich floskellos, machte sich auf seinen Weg.

Langsam wollte ich mich wieder zur Nähe des Bahnhofs begeben, was sich schwieriger gestalten sollte, als ich vermutet hatte. Willkommen, Fremdling. Hier findet man alles. Überall. Dreimal.
Ein Grinsen überkam meine Lippen, als ich siegessicher eines Weges schritt.
Und es legte sich wieder, als ich merkte, dass ich in der Runde gelaufen war.
Hirnfuck. Drogen. Wie spät war es? Dunkelzeit. Vier Uhr morgens, vier Uhr nachts.

Als ich hoffnungslos durch die Straßen zog, fragte mich ein Standbesitzer, der gerade seinen Wagen schloss, wie es mir ginge. Ganz spontan. Anstatt zu antworten fragte ich ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Er griff meine eiskalte Hand, die in seiner sofort zu schmelzen begann, und wies mir irgendeine Richtung.
Ich passte nicht auf. Er war so nett. Er lachte mich an. Dann rannte ich los.. und er rief mir noch etwas nach. Keine Ahnung, ich wusste nichts.
Vor mir bäumten sich andere Stände auf, Menschen standen mir im Weg. Ich wich nach links, Person nach rechts. Andersrum, selbes Spiel. Wir lächelten. "Die ist ja niedlich", hörte ich und schon war ich vorbei.
Raus aus der Masse, weg vom Markt, immer gerade aus, nach rechts, im Kreis.
Hinter mir wurde es dunkel und vor mir lagen Straßen. Ortsschilder. Mit Buchstaben.
War das eine neue Stadt? Und wie spät war es? Dunkelzeit? Nuttenzeit?

Ich war müde, doch ich hatte Angst mich auf eine Mauer zu setzen. Das klingt im ersten Moment etwas lächerlich. Vermutlich im zweiten auch noch. Vielleicht hat das etwas mit Innerer Einstellung zutun. Oder sowas. Wenn ich mich selbst wie eine kleine Drecksschlampe fühle, dann sehen mich andere Menschen eventuell auch so in der Art. Wenn ich Sorge darum habe, als Nutte entdeckt zu werden, dann muss ich zumindest schon mal darüber nachgedacht haben, wie das wäre eine zu sein, nicht wahr?
Du hast nicht den geringsten Plan, was für Kuhmist jetzt schon wieder durch meine Fingerspitzen fließt? Das ist kein Problem, denn das tut auch nichts weiter zur Sache.
Ich fühlte mich nicht sehr intelligent, als ich in einem Geschäft nach der Uhrzeit oder dem Weg oder nach irgendetwas Fragbarem fragen wollte, und zu spät merkte, dass die Schaufenster mittlerweile nur noch "for attention" beleuchtet waren. So müssen sich Stubenfliegen fühlen. Die Armen.
Wie spät war es denn? Nuttenzeit, Nuttenzeit.

Ich ging weiter, bis ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein sympathisch-aussehendes Pärchen mittleren Alters erblickte. Ich rede nicht gerne, ich bin schüchtern wie sonst was.. aber wenn dich keiner kennt, dann weiß das schließlich niemand.
Also fasste ich mir ein Herz, sprach sie an und wurde belohnt. Beide waren sehr freundlich und klärten mich auf. Ich war hier wohl vollkommen falsch und sie luden mich ein, sie ein Stück zu begleiten, da sie sowieso in die richtige Richtung liefen. Natürlich nahm ich an und ging mit. Mir wurde warm. Etwa zehn Minuten lang fühlte ich mich weniger einsam. Für das Sechstel einer Stunde hatte ich hier Eltern.
Die letzten 200 Meter ließen sie mich dann allein gehen und ich fand den Bahnhof sofort.
Dabei wollte ich gar nicht mehr. Die Menschenmassen drängten mich zu einem Fahrkartenautomat, wo ich mir aus Intuition ein Ticket für die Fahrt zur nächsten Stadt kaufte.

Dann suchte ich nach einer Steckdose, denn mein Handy war seit Ankunft in dieser Stadt fürchterlich tot und mir blieb nur noch ein altes Siemens-Notfall-Handy ohne alles, dessen Akku ich nicht auch noch aufbrauchen wollte. Ich dachte, dass am ehesten welche im Sanitärbereich zu finden wären, also suchte ich das scheißteure 70-Cent-Klo auf (dem es zwar an vernünftigen Klodeckeln oder -brillen, nicht dafür aber an Hightech-Waschbecken mangelt. Seltsam, wo Menschen Prioritäten setzen. oô), und befand es als in Ordnung genug, um mich dort eine Weile niederzulassen. Schön war es wirklich nicht, aber immerhin etwas wärmer und gemütlicher als draußen; deshalb setzte ich mich auf meine Tasche und lehnte mich an die Heizung.

Wie spät ist es?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt