2. Teil

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"Polizei! Aufmachen - sonst müssen wir das tun!", laut und deutlich. Es hämmerte an die Tür.
Wahrscheinlich hätte ich der Polizei dann auch aufmachen sollen und mir wären einige Peinlichkeiten erspart geblieben, aber ich hielt das Ganze bis zum Ende für einen dummen Scherz.
Anscheinend hatte ich die angeblich vierzig Minuten andauernden Kommunikationsversuche vom "Kloboy" überhört (nur seine Radiomusik hatte ich vernommen), der doch bloß Saubermachen wollte - und sich dann wohl nicht mehr anders zu helfen wusste.
Ich war wirklich fertig. Halb am Schlafen, halb am Starren, halb am Durchdrehen. Zu dem Zeitpunkt war ich an die 36 Stunden wach und etwas dehydriert. Ich hätte mit Sicherheit einen singenden Teletubbie für voll genommen, aber doch nicht die Bullen.
Nun, es war aber kein Scherz.
Denn Hassan, 50 Jahre, Toilettenreinigungskraft seit zwei Jahren und Konsorten, meinten das sehr ernst.
Umso glücklicher war er dann, dass ich keiner dieser Raucher, Alkis oder Drogenjunkies zu sein schien und nach einem kurzen Besuch auf der örtlichen Wache, einem Taschengewühl auf der Suche nach Illegalitäten (guter Herr, das müssen sie aber nochmal üben!) und einem abklärenden Telefonat mit meiner Mutter (ich hätte ja nichts verbotenes getan - beteuerte der Polizist -, aber anrufen und Unruhe und Sorgen und Ärger stiften müsse man trotzdem!!1) trotz recht kritischer Begutachtung wieder entlassen wurde.
Toll, somit hatte ich dann auch noch meinen Zug verpasst! Und sollte den nächsten in einer Stunde nehmen. Völlig rücksichtslos von den Beamten in Hinblick auf mein doch so offensichtlich labiles Verhalten.

Naja, who cares. Tütchen leer, Mädchen sauber, Hassan wartet.
Nun, der hatte Spaß, denn jetzt hatte er genügend Zeit, mir sein kleines Reich hinter Kachel und Pisse zu zeigen. Nein, das Räumchen war wirklich ziemlich niedlich und er bot mir sogar seinen Drehstuhl an, während er sich auf eine blaue Papierrolle setzte. Eintritt war für mich natürlich frei und ebenso durfte ich mein Handy ein paar Minuten aufladen, sodass es sich auf in Krisenzeiten gigantisch dehnbare 4% retten konnte. Außerdem schenkte er mir ein Hustenbonbon, das er auf seinem Tischlein fand.
Dass er mich lieb hatte, das war längst klar, doch er schien auch sehr auf den Duft dieses grünen Bonbons abzufahren, denn plötzlich reichten überschwängliche (Entschuldigungs-)Umarmungen und minutenlanges Patschehändchenhalten nicht mehr. Das war entschieden zu wenig Körperkontakt für einen Fremden, den man gerade erst aus einer Klokabine gerettet hatte!
Hassan ist ein harmoniebedürftiger Mensch.
Denn Hassan hat ein Herz in seiner haarigen Brust. Und weil er so ein riesiges Blutpumporgan hat, das vor Liebe fast zu platzen drohte und ich mir - meine eher mäßigen Erste-Hilfe-Kenntnisse im Hinterkopf - ernsthaft Sorgen um seinen Gesundheitszustand machte, nahm ich seine Liebe an.
Von da an, zählte er mich zu seinen zwei (bereits vorhandenen) Töchtern. Ja, nett und offen war er. Wenn auch etwas zu viel, für meine Bedürfnisse, oder bin ich jetzt verklemmt?
Ich fragte ihn, was ich denn tolles getan hätte, dass er mich bereits so schnell in den Kreis seiner Liebsten aufnahm. (Also.. außer, ihn vorm Kloputzen bewahrt zu haben, natürlich.)
Seine Antwort verstand ich zwar nicht recht, manchmal kam sein Akzent doch noch sehr raus, aber sie klang trotzdem irgendwie plausibel. Also ließ ich auch Wangenschmatzer zu, die ab und an etwas abzugleiten drohten, schließlich wollte ich den herzigen Mann nicht enttäuschen.
Und mein Handy weiter aufladen. 8)

Für manche Bequemlichkeiten muss man auch mal Opfer bringen.
Vielleicht darf ich dort das nächste Mal umsonst pinkeln gehen.
Ob es das wert war, weiß ich nicht. Ich denke aber schon.

Lernen kann man durch solche Erfahrungen übrigens auch noch.
Ich weiß jetzt, dass es drei verschiedene Seifen gibt,
dass öffentliche Bahnklos nicht 24/7 benutzbar sind (das wusste ich davor tatsächlich nicht!),
dass elektrische Steckdosen an öffentlichen Plätzen offenbar Rarität und somit eine wirkliche Marktlücke sind (Denn wer braucht Hotspots und offenes WLan, wenn das Teil gar nicht erst angeht? Außerdem könnte man sich so überall schnell ein Käffchen kochen. Ist das cool? Das ist cool!)
und ich habe entdeckt, dass Fineliner eine schlechte Art Stift dafür sind,
nachts um halb vier die ganzen Geschehnisse eines einzigen Tages außerhalb des gewöhnlichen Bett-Küche-Bad-Habitats aufzuschreiben, wenn man an einem arschkalten Bahnsteig sitzt und seinen warmen Atem eigentlich zum Überleben statt zum Stiftanhauchen braucht.
Außerdem denkt man mal über Dinge nach, die einem sonst eigentlich viel zu öde zum Drübernachdenken sind. Warum haben die meisten modernen Telefonzellen gar keine Zelle mehr? Und weshalb regen sich Menschen in Facebookzeiten noch über Spionage- und Abhörskandale auf?
Wieso existieren mehr Süßigkeitsautomaten als Wasserspender? Warum gibt es an diesem Hauptbahnhof keine öffentlichen Toiletten? Weshalb steht der Nachtwächter selbst zur zuglosen Zeit an Ort und Stelle?
Wieso ist das Mädchen so gestört und bleibt Stunde für Stunde alleine sitzen, anstatt sich die 900 Meter ins Warme zu schleppen und sich für ihr egoistisches, asoziales Verhalten zu entschuldigen?
Die Antwort ist: Ich habe nicht den blassesten Schimmer.
Das sind diese Dämlichkeiten, die mir mehr als deutlich machen, weshalb ich mich seit Wochen in meinem kleinen roten Zimmer verstecke.

Wie spät ist es?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt