#54 - Venedig

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Als sie endlich landeten, war es 21 Uhr. Der Flug hatte zwei Stunden gedauert und Ryan hatte den ganzen Flug über mit niemandem ein Wort gewechselt. Selbst der Stewardess, die ihm etwas zu trinken angeboten hatte, hatte er nicht geantwortet.

Ryan und die anderen Wächter verließen eilig das Flugzeug. Sobald sie den Tunnel passiert hatten, teilten sie sich auf, um die anderen Menschen nicht in Panik zu versetzen. Und ja, es war schon auffällig, wenn etwa dreißig gut gebaute Erwachsene Leute gemeinsam durch den Flughafen liefen. Das schrie praktisch schon nach Terroranschlag.

Da sie nur Handgepäck dabei hatten, brauchten sie keine Koffer zu holen und somit Zeit sparen.

Gedankenverloren lief Ryan neben Zack (einem der anderen Wächter) durch den Flughafen zu den Taxis. Alle hier waren braun gebrannt, nur manche, wie Touristen die gerade erst angereist waren, sahen käseweiß aus. Wobei Ryan zugeben musste, dass er auch aus der Menge herausstach.

Er war außergewöhnlich groß für seine neunzehn Jahre, geschätzte eins fünfundneunzig. Neben jemandem wie Liz sah er aus wie ein Riese. Apropos Elizabeth...

Sie war nicht mitgekommen. Oder eher gesagt sie konnte nicht. Max hatte sich nicht bestechen lassen und als Abernathy herausbekommen hatte, dass sie mitwollte, hatte er es ihr verboten. Natürlich war sie stinksauer gewesen, aber sie hatte nicht mehr Widersprochen. Was Abernathy sagte, war bei den Wächtern sowas wie ein Gesetzt. Wer in Italien bei den Wächtern das sagen hatte, wusste er nicht mehr. Jedenfalls-

Ryan's Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er ausversehen gegen eine Frau stieß, die prompt ihre Tasche fallen ließ und alles herauspurzelte.

Die Frau drehte sich wütend zu ihm herum und begann ihn auf italienisch anzuschreien. Er wollte sich bücken, um ihre Sachen aufzusammeln, aber sobald seine Hand ein Deo berührte, schlug sie ihm auf die Finger und fing wieder an zu schreien.

Für einen Moment war alles still. Die Frau bewegte ihren Mund, aber Ryan konnte sie nicht mehr hören. Alle Leute sahen zu ihnen herüber und für einen Moment überlegte er, ihr klarzumachen, dass niemand, absolut niemand, ihn schlagen durfte. Auch nicht auf die Hand.

Für etwa zwei Sekunden sah er das Gesicht seines Vaters vor sich. Dann riss ihn Zack's Stimme wieder zurück in die Realität.

»Lass uns weitergehen«, raunte er ihm zu.

Ryan nickte. »Scusi«, meinte er noch zu der Frau, bevor er mit dem anderen Wächter weiterging. Noch immer schauten ihn viele Leute an und ein paar schüttelten ihren Kopf.

Er ignorierte sie und sie gingen weiter zu den Taxis, die dort schon bereit standen. Die beiden Wächter setzten sich ins Taxi.

»Per il traghetto, per favore«, sagte Zack zu dem Fahrer. Ryan wusste nicht genau, was er gesagt hatte, aber sie fuhren los.

»Certo, ci vorranno pochi minuti«, erwiderte der Fahrer und schwieg dann. 

»Wir fahren jetzt zu der Fähre, die uns dann ein paar Stationen fährt«, erklärte Zack.

Ryan grinste leicht. »Die S-Bahn Italiens, huh?«

»Sozusagen ja.« Zack lachte, während sie über eine lange Brücke fuhren. Nach wenigen Minuten kamen sie dann endlich an.

Zack zahlte (in England hatten sie bereits etwas Geld gegen Euro getauscht) und sie stiegen aus. Die anderen standen dort auch schon und warteten auf die beiden und die Fähre.

»Habt ihr die Tickets schon gekauft?«, fragte Zack einen der anderen.

»Ja, jetzt fehlen nur noch drei von uns.«

Während sie warteten, betrachtete Ryan die Gegend. Er war nur einmal in Venedig gewesen und da hatte er kaum Zeit gehabt, sich die Umgebung richtig anzusehen, weil er von den Venatori gejagt wurde und er sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Das war vor knapp zwei Jahren gewesen.

Damals hatten er und die Wächter Zoey schon öfters beobachtet. Sie war vierzehn Jahre alt gewesen und sah nicht gerade glücklich aus - das tat sie jetzt immer noch nicht, aber er konnte sie verstehen. Wenn man Eltern hat, die sich andauern streiten und keine richtigen Freunde, ist man eben nicht glücklich. Wenn sie wüsste, dass er bereits sehr viel über sie wusste, würde sie durchdrehen, da war er sich sicher.

Zoey gab fast nie etwas von ihr Preis. Wüsste er nicht schon so gut wie alles über sie, hätte er sie vor Neugier ausgefragt.

»Jetzt können wir los«, riss mich Zack's Stimme aus meinen Gedanken.

Die restlichen Wächter waren nun auch da, also passierten sie mit den Tickets die Schranke und gingen dann auf die Fähre, die proppenvoll war. Ryan musste sich zwischen einer dickeren Frau und einem deutschen Mädchen quetschen, das etwa in Zoey's Alter war. Er erkannte die Herkunft, da das Mädchen mit einem Jungen sprach und er ein paar deutsche Wörter mitbekam, die er kannte.

Und wenn Ryan sich nicht irrte, war das hier keine Fähre sondern ein Vaporetto, also eine Art Wassertaxi. Oder wie er meinte, die S-Bahn Venedig's.

Sie fuhren eine ganze Weile über das Wasser zwischen den ganzen Häusern und den Gondeln. Es gab hier zwar auf jeder Seite zwei dreier-Sitze, aber die waren voll besetzt. Ein Asiate saß neben einem offenem Fenster und als plötzlich Sirenen ertönten und ein Boot mit Sirenen schnell an ihnen vorbeifuhr, wurde er nass. Ein paar Leute lachten den Asiaten aus, aber Ryan schmunzelte nur und checkte sein Handy.

Keine neue Nachricht.

Auch wenn Zoey's Handy in Ashford war, hoffte er trotzdem, dass er sie irgendwie kontaktieren konnte. Die telepathische Verbindung hatte er im Taxi auch schon ausprobiert, aber er hatte sie nicht gespürt, was ihn nur noch mehr zu schaffen machte.

Dann mussten sie ausstiegen. Ryan folgte den anderen Wächtern heraus und sie teilten sich auf, wie sie es mit Abernathy besprochen hatten. Dreißig kräftige Männer und Frauen, das würde wieder nach einem Terroranschlag oder schlimmerem aussehen. Und sie durften die Menschen nicht in Angst und Schrecken versetzen.

Während er mit Zack Links abbog, schien die Sonne direkt in seine Augen. Die beiden Wächter setzten sich Sonnenbrillen auf und gingen gelassen weiter. Ryan blieb wachsam, aber er sah sich ein paar Läden im vorbeigehen an. Hier wimmelte es nur so von Touristen, die ihr Geld ausgeben wollten. Pizzageruch schlug ihnen entgegen und am liebsten hätte Ryan sich jetzt irgendwo reingesetzt und eine gegessen. Sein Magen knurrte, weil er seit über zehn Stunden nichts mehr gegessen hatte.

»Da lang«, meinte Zack auf einmal und zeigte auf eine Brücke. Weil die Gassen hier überall gleich aussahen und Zack hier schon oft gewesen war, übernahm er die Führung.

Ryan nickte und sie begannen die Treppen emporzusteigen. Die beiden Wächter quetschten sich an vielen Touristen dabei, die aus aller Welt kamen, und an indisch oder pakistanisch aussehenden Verkäufern, die Selfie-Sticks ziemlich aufdringlich anboten.

Venedig war schön, das konnte man nicht bezweifeln.

Aber Ryan könnte sich nicht vorstellen, hier jemals zu Leben. Die ganzen Ladenbesitzer lebten von den Touristen und es war einfach proppenvoll, überall. An jeder Ecke stand eine Gruppe von Leuten, denen etwas von einer Touristenführerin gezeigt wurde. Außerdem konnte er beobachten, wie ein paar Mädchen kichernd in einen Taschenladen liefen. Eine davon, ein dunkelhaariges Mädchen mit knallrotem Lippenstift, blieb noch vor dem Laden stehen und zwinkerte ihm und Zack zu, bevor sie in den Laden ging.

Die beiden Wächter gingen weiter und immer, wenn sie dem Wasser nahe waren, roch es nach Chlor. Das Wasser war zwar halbwegs sauber, aber es stank grauenhaft danach.

»Wir sind da«, meinte Zack nach einer Weile.

Sie waren mindestens eine Stunde lang durch die Straßen gelaufen. Jetzt standen sie vor einem Tor, dass zu einer weiteren Gasse führte. Zack holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss das Tor auf. Gemeinsam betraten sie die schmale Gasse. Zack schloss das Tor wieder hinter ihnen ab und sie liefen so lange weiter, bis sie an einer Holztür ankamen. Hier hinten waren keine Leute mehr, sie waren jetzt nicht mehr im Zentrum.

Ryan klopfte an die Tür und einen Augenblick später wurde ihnen die Tür geöffnet.



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