#64 - Schau zu und lerne

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Gerade als wir dabei waren, den Saal zu verlassen, drehte sich mein Kopf und meine Augen erblickten eine dunkelhaarige Frau in einem roten Kleid und einer ebenso roten Maske. Sie hatte mir den Rücken zugedreht und stand etwa zwanzig Meter von mir entfernt.

Mein Körper wurde noch immer von jemand anderem gesteuert, also konnte ich auch nichts dagegen tun, als die Frau sich zu mir herumdrehte und mich zu sich winkte. Mein Körper bewegte sich von alleine und trat ein paar Schritte vor. Als ich sie genauer ansah, wurde mir übel; ihr Gesicht war von keiner Maske verdeckt worden, sondern es war blutbeschmiert.Ihre Augen waren geweitet und sie hatte den Mund vor Schreck geöffnet.

Ich wollte etwas sagen, jemanden auf sie aufmerksam machen, aber ich hatte nicht mehr meinen Körper unter Kontrolle. Adrenalin schoss mir durch den ganzen Körper und ich konnte mein Herz schnell schlagen hören.

Plötzlich legte sich eine Hand anmeine Schulter und ich zuckte zusammen. Mein Körper drehte sich zu der Person um und sah Jake an, der mich seltsam anschaute.

»Alles okay?«, fragte er mich.

Ich sah wieder zu der Stelle, wo die Frau gestanden hatte, aber sie war weg. Verwirrt sah ich wieder zu ihm und nickte langsam. Er führte mich aus dem Saal, aber ich drehte mich nochmal um, aber die Frau war verschwunden.

Was hatte das zu bedeuten?

Draußen wurden wir bereits von den Männern erwartet,die uns auch hergebracht hatten. Sie nahmen mich in ihre Mitte und wir liefen wieder denselben Weg, diesmal nur zurück. 

Als wir einpaar Minuten unterwegs waren, krümmte sich mein Körper urplötzlich. Aus meinem Mund kam ein schmerzvolles Zischen und ich hielt mir - nach Luft schnappend - den Bauch.

Sofort eilte Jake an meine Seite und hielt mich fest, damit ich nicht umkippte. Währenddessen fragte ich mich, warum das die Person tat, die meinen Körper steuerte. Ich spürte keinerlei Schmerzen, rein gar nichts. Jake redete leise auf mich ein, aber ich hörte nicht zu. Stattdessen krümmte ich mich noch mehr und stolperte ein paar Schritte näher zum Wasser, während Jake versuchte mir zu helfen. Er riss sich selbst die Maske vom Kopf und schmiss sie achtlos auf den Boden, während er meine ebenfalls abnahm, nur vorsichtiger.

Tränen traten mir in die Augen.»Bitte... bitte mach das es aufhört«, brachte meine Stimme keuchend hervor.

Und dann kapierte ich es.

Das war meine Rettung. Ryan und die Wächter würden mich retten. Ich sollte dieübertriebenen Bauchschmerzen vorspielen. Nur erledigte das geradedie Person, die meinen Körper steuerte.

Jake befahl einen der Venatori, jemanden sofort anzurufen. Ich stöhnte vor (nicht vorhandenen) Schmerzen auf und stolperte ein paar Schritte zur Seite, damit es echter aussah. Dabei wurde mir wirklich etwas schwindelig und ich konnte spüren, wie die Person meinen Körper verließ und ich wieder Kontrolle über mich selbst hatte. Meine Sicht verschwamm und mein Kopf begann zu brummen.

Aus weiter Entfernung erklang das Geräusch, wenn Metall auf Metall traf. Es war ein fürchterliches Kreischen und ich konnte mehrere Stimmen vernehmen. Dann fühlte ich,wie jemand meinen Arm nahm und mich ein paar Meter weiter weg zog.Ich blinzelte und für eine Millisekunde sah ich blondes Haar und braune Augen – Jake.

Jedoch riss mich noch jemand von ihm weg und ich spürte eine warme Hand auf meinem Rücken.

Sofort klärte sich meine Sicht und ich sah Ryans Gesicht vor mir. Er sah mich so intensiv an, dass ich eine Gänsehaut bekam.

»Bleib hinter mir«, raunte er mir zu und schob mich hinter sich. Er hatte noch immer eine Hand, nur diesmal lag sie an meiner Taille. Seine Hand verursachte ein Kribbeln an der Stellte und mit jeder Sekunde,in der wir hier standen und den Kampf beobachteten, ging es mir besser. Ryan schien mir irgendwie Kraft zu geben.

»Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte ich und klammerte mich erleichtert an ihn fest. Am liebsten würde ich jetzt schon wieder anfangen zuweinen, weil ich so froh war, ihn zu sehen.

»Keine Sorge, wir werden dich wieder nach Ashford bringen«, sagte er sanft.

Ryan's Blick war noch immer auf die Wächter gerichtet, die gegen die Venatori ankämpften. Es waren etwa sechs Venatori und zehn Wächter. Es war ein leichtes Spiel für uns.

Jedoch konnte ich Jake nicht sehen und das machte mich misstrauisch. Wo war er?

Gerade als ich den Mund öffnen wollte, um Ryan das zu Fragen, bekam er einen festen Schlag ins Gesicht.

Ryan schien kurz überrascht zu sein, aber er bekam sich schnell wieder unter Kontrolle. Jake stand vor ihm undverpasste ihm schon den nächsten Schlag, den Ryan nicht so schnellabwehren konnte. Es war ein heftiger Kinnhaken gewesen.

»Lauf weg!«, rief Ryan mir zu und schlug währenddessen Jake ebenfalls ins Gesicht. Jake hatte nicht rechtzeitig reagiert und sein Kopf flog heftig zurseite.

Schnell sah ich mich um und bemerkte, dass der Kampf vielleicht doch nicht ganz fair gewesen ist. Drei der Wächter lagen auf dem Boden und die Männer in Anzügen standen noch alle Aufrecht. Aber wie konnte das passieren? Wir waren doch in der Überzahl! Sie konnten doch nicht stärker sein, oder doch?

Ich wusste nicht, wohin ich laufen sollte, weil ich eigentlich helfen wollte, weswegen ich an der Seite stand und angestrengt überlegte. Noch ein Wächter fiel bewusstlos zu Boden und der, der ihn niedergeschlagen hatte, wandte sich nun mir zu. Oh, scheiße...

Reflexartig drehte ich mich um und rannte los. Ich rempelte ein paar Leute an, die mich auf italienisch verfluchten,aber ich ignorierte sie einfach und rannte, als ging es um mein Leben. Okay, es ging gerade wirklich um mein Leben.

Ein paar Meter hinter mir hörte ich seine festen Schritte, die immer schneller wurden. Ich versuchte mich an die Trainingsstunden mit Liz zu erinnern, was sie mir beigebracht hatte.

Bei jedem dritten Schritt ein- und ausatmen, ertönte ihre Stimme in meinem Kopf. Und konzentriere dich!

Ich befolgte ihre Anweisungen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Ich lief etwas schneller, aber ich konnte meinen Verfolger nicht abhängen. Ich überquerte einige Brücken, rempelte dutzende Leute an (die meisten waren betrunken) und begann nach ein paar Minuten nach Luft zu schnappen.
Wenn ich nicht gleich anhielt, würde ich an Sauerstoffmangel sterben, das war klar.

Ich konnte einfach nicht mehr. Mein Herz schlug wie verrückt, ich schwitzte wie ein Schwein und meine Füße taten von den Schuhen und dem Laufen weh. Ich blieb keuchend auf einer Brücke stehen und drehte mich um.

Der Venatori war nur wenigen Stufen von mir entfernt und er schien nicht mal auszusehen, als würde er sich sonderlich anstrengen. Ich stellte mich an den Rand der Brücke und sah hinunter. Es war nicht sehr hoch, vielleicht um die vier Meter.

Kaum atmete ich einmal tief ein und aus stand er schon vor mir. Ich presste mich ans Geländer und sah ihn an.

»Tja, die Rialto-Brücke ist wohl kein guter Ort, um wegzulaufen«, meinte er triumphierend. Der Mann trat noch einen Schritt vor und ich spürte das Geländer nun ziemlich deutlich in meinem Rücken. Es ging mir etwa bis über den Bauch.

»Du kannst nicht mehr weglaufen«, fügte er hinzu.

Ich lächelte leicht, worauf er die Stirn runzelte. »Achja?«, fragte ich. »Schau zu und lerne.«

Bevor er auch nur mit der Wimper zucken konnte, drehte ich mich blitzschnell um und sprang über das Geländer in den Kanal.


Dark WhisperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt