𐫱 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩 𝔫𝔢𝔲𝔫 𐫱

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Melody

Klirrend geht etwas in der Küche zu Bruch. Ich höre Mommy's aufgebrachte Rufe und spüre eine kleine Hand, die sich an meiner festklammert. Ich wende meinen Blick und schaue in die feuchten Augen meines Bruders. Ein gequältes Brüllen erreicht unsere Ohren und mit einem letzten Poltern wird es für einen Moment ruhiger. „Daddy?", fragt mein kleiner Bruder mit zitternder Stimme. Ich antworte ausweichend: „Komm, wir bauen eine Höhle." Mit unseren Decken und Kissen machen wir uns eine sichere Burg und verkriechen uns darin. Ich erzähle meinem kleinen Bruder, der sich fest an mich gekuschelt hat, wie die Welt war, als Mommy klein war. Blühende Wiesen, grüne Wälder und weiße Wolken. Der Streit scheint weit und ist nur dumpf zu hören. Dann fällt ihm auf, dass er Teddy vergessen hat. Ich klettere hinaus und finde das Kuscheltier auf dem Boden. Plötzlich steht Daddy im Türrahmen. Seine Augen sind  rot unterlaufen und schwarzes Blut läuft aus seinem Mund. „Melody", krächzt er. Mein Herz pocht laut und ich lasse Teddy fallen. Das ist nicht Daddy. Das ist ein Monster. Er macht ein Schritt auf mich zu. Ein gellender Schrei entfährt meinen Lippen.

Nach Luft schnappend schrecke ich hoch. Die gräßlichen Erinnerungen verfolgen mich nun bis in die Nacht und lassen mir keine Ruhe. Ich kann die Tränen, die aus meinen Augen schießen, nicht aufhalten. Mit ihnen strömen alle aufgestauten Gefühle und Fragen hinaus. Still weinend ziehe ich meine Beine an die Brust und begrabe mein Gesicht in meinen Armen. 

Auf einmal spüre ich, wie ich in eine Umarmung gezogen werde. Ich muss gar nicht aufschauen, um zu wissen, dass es Thomas ist. 

Er hält mich einfach fest, gibt mir Halt wie ein Fels inmitten des Sturms. Er fragt nicht, er ist einfach da. 

In mir regt sich was. Ein Teil von mir sträubt sich, möchte ihn am liebsten wegstoßen, denn ich sollte die starke Schwester sein. Doch der anderer Teil sehnt sich nach Geborgenheit. Nach diesen verwundbaren Moment. Ich kann die Vergangenheit nicht verdrängen, die kalte Realität nicht ignorieren.  

So sitzen wir, wie in der kleinen Höhle unserer Kindheit, eng beieinander. Ich in den Armen meines jüngeren Bruders, der nur ahnen kann, was in mir los ist. Zum ersten Mal Rollen getauscht. Und ich lasse es einfach zu. Lasse alles los und sinke an seiner Brust in einen behüteten Schlaf. 

***

Die Geschäftigkeit der anderen weckt mich. Benommen setzte ich mich auf. Mein Blick fällt auf Thomas, der konzentriert die Essensrationen aufteilt. Ich denke an die Nacht zurück und bin mir nicht sicher, ob es nur ein Traum oder Realität war. Panik wallt in mir auf. Was ist, wenn das alles ein Albtraum ist. Wenn es gar nicht die Wahrheit ist. Ein weiterer Test von WCKD.

Tatsachen, Melody. Tatsachen. Ich atme tief durch. Die stickige Luft, die die sengende Hitze des Tages ankündigt, dringt in meine Lunge. Meine Augen sind geschwollen und ich spüre den harten Boden unter mir. Alles spricht für die Realität und doch bin ich mir unsicher. 

Mit einem Ruck stehe ich auf. Keine Zeit für Trübsal! Entschlossen gehe ich zu Thomas und schaue ihn mit in die Hüften gestemmten Hände von oben an. „Warum habt ihr mich nicht geweckt?", frage ich meinen Bruder vorwurfsvoll. 

Er hält inne und schaut zu mir auf. „Du hast so tief geschlafen, da tat es mir leid dich zu wecken."

Empört schüttle ich den Kopf: „Du musst mich nicht wie ein zartes Blümchen behandeln."

„Ich weiß. Aber du hast den Schlaf verdient. Wenn wir losgegangen wären, hätten wir dich geweckt." Mit einer schnellen Bewegung verschließt er den letzten Rucksack. 

Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit und ich muss an unser Versprechen denken. Damals, als unser Leben den Bach runter ging. Eine dunkle Wolke zieht schon wieder über meine Gedanken.

Alice im MazeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt