V01CH04 - Aalborg, Juli 1889

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„Bitte, das ist ein Irrtum! Ich bin nicht krank!" Claires Flehen ging in den Schreien der anderen Insassen unter.

„Bitte!" ihre Stimme wurde immer leiser.

„Es ist kein Irrtum, dass du hier bist, Claire." Die Stimme des Anstaltsleiters klang, als wäre sie ganz weit weg. Doch als sie aufblickte, war niemand vor ihrer Zelle, und keiner der anderen Insassen schien zurückzuweichen, was normalerweise der Fall war, sobald sie den Leiter sahen.

Es waren nicht nur einfache Gerüchte, die man sich hier über ihn erzählte. In der kurzen Zeit, die Claire hier verbracht hatte, konnte sie die Validität einiger Gerüchte bestätigen.

Eines davon war die Geschichte eines Mannes, der hier an die Anstalt geliefert worden war und über zwei Wochen lang immer, wenn er kurz vorm Einschlafen war, mit Wasser übergossen worden war. Sein Schlafrhythmus hatte sich von normal zu komplett arhythmisch gewandelt, und er wirkte bis jetzt noch jedes Mal gehetzt, wenn er aufwachte.

Ein anderes Mal hatte der Irrenanstaltsleiter die Idee gehabt, einigen der Insassen Stöcke in die Hand zu geben und einen kleinen Trakt ab sofort zu leiten.

Erstaunlicherweise waren aus den vorherigen Leidensgenossen ziemlich schnell richtige Wärter geworden, die sich lustig über ihre ehemaligen Zellengenossen gemacht, sie wegen Kleinigkeiten niedergemacht und geschlagen hatten und sie demütigende Dinge machen ließen.

Einmal hatte einer der Insassen Geburtstag gehabt und die „Wärter" ließen seine Kollegen zur Feier vier Stunden lang im Stehen ein Geburtstagslied singen. Irgendwann wurde es ihnen aber zu langweilig und sie gingen wieder dazu zurück, die Insassen mit den Stöcken zu schlagen.

Dann wurden aus den „Wärtern" wieder Insassen, die sich mit jeweils einem der von ihnen Misshandelten eine Zelle teilen mussten.

Eine Woche später wurde das Spiel wiederholt, nur diesmal mit der anderen Hälft der Insassen. Was sehr interessant zu beobachten war, war, dass die neuen „Wärter" mit einer viel stärkeren Härte die Insassen quälten, während diese das anstandslos über sich ergehen ließen, da das ja die gerechte Strafe war.

Der Anstaltsleiter war sichtlich nicht zufrieden mit dem Endergebnis, das ein Monat, nachdem wieder alle in ihre Zellen zurückgekehrt waren, wieder so etwas wie freundlicher Umgang miteinander herrschte. Das Vertrauen untereinander war zwar zerbrochen, aber die Leute waren miteinander quitt, was Raum zum Knüpfen neuer Bänder ließ.

Claire hatte gehört, dass er ein ganz ähnliches Experiment vorher schon einmal gemacht hatte, nur dass sich die „Wärter" damals nicht abgewechselt hatten, sondern eine Woche „Wärter" waren, eine Woche wieder Insassen und dann das Ganze nochmal von vorne. Hier waren die „Wärter" mit jeder Woche schlimmer geworden, und es gab viel öfters viel schwerere Verletzungen, bis sie einen der Insassen sogar totgetreten hatten. Und jedes Mal, wenn sie wieder Insassen für eine Woche waren, wurden sie schlimm zusammengeschlagen.

Nachdem es jeweils einen Toten auf jeder Seite gegeben hatte, brach der Anstaltsleiter das Experiment ab. Diese Gruppe erholte sich nie mehr von dem, was sie getan hatten.

Niemand wusste, was der Anstaltsleiter als nächstes tun würde, aber jeder hatte große Angst davor.

Einmal war er zu Claires Zelle gegangen und hatte sich direkt vor die Gitterstäbe gehockt. Er war einige Zeit einfach nur dagesessen und hatte sie mit großen Augen angeschaut, den Kopf leicht schräg gehalten. Claire hatte das Gefühl, sie sei eine sehr interessante Tierart, die er einfach nur beobachten wollte. Unter seinem Starren war sie nervös geworden und hätte sicher angefangen, sich hin und her zubewegen, könnte sie aus dem Stuhl heraus, an den sie festgebunden war. Um sich nicht selbst zu verletzen hatte es geheißen, aber Claire konnte noch nicht einmal ihren Kopf mehr als leicht zur Seite bewegen. In den vielen Tagen hier drinnen so ganz ohne Bewegung verlor sie langsam das Gefühl für ihren Körper.

Clockwork HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt