V01CH03 - Aalborg, Jänner 1881

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„Jeder von uns hat etwas, wofür er lebt."

Seine sanfte Stimme strich ganz knapp an ihren Wangen vorbei. Sie spürte ein starkes Kribbeln, das sich von ihrem Rücken aus ausbreitete und sie leicht erzittern ließ.

„Und wofür lebst du?"

Seine Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern, direkt an ihrem Ohr. Mari war ganz benebelt. Sie bekam nichts mit außer dem leisen Atem an ihrem Ohr und der Hitze ihres Körpers.

Langsam beugte er sich zurück, und mit ihm wich die Wärme aus ihr.

Sie schaute mit langen Wimpern zu ihm auf. Er stand einfach nur zurückgelehnt da und schaute sie an. Anscheinend wartete er auf eine Antwort.

„Ich..." krächzte sie heiser von der Hitze vorher. „Ich lebe für Euch, Meister."

Hoffnungsvoll blickte sie in sein Gesicht. Wenn das die Antwort war, die er hören wollte, würde er sie mit seinem wunderschönen Lächeln belohnen.

Doch was sie beim Aufschauen sah, war genau das Gegenteil. Sein Gesicht war wutverzerrt, sein Blick geradewegs auf ihre Bluse gerichtet. Langsam schaute sie auf sich hinab.

Dort, direkt vor dem linken Brustansatz, war ein kleines Loch. Das musste passiert sein, als sie ihrem Meister bei seinem letzten Experiment geholfen hatte.

Etwas war schiefgelaufen, und Säure war auf sie gespritzt. Es war nicht viel, doch ein paar Tropfen hatten ihre Haut getroffen.

Die Stellen hatten furchtbar gebrannt und ihre Wunden waren tief gewesen, aber sie war sich sicher gewesen, dass sie ihr normales Arbeitsgewand nicht zerstört hatte. Sie hatte sogar extra ihren linken Arm davorgehalten, der noch immer pulsierte vor Schmerz.

Doch sie war anscheinend nicht vorsichtig genug gewesen. Ihr Meister hasste Imperfektion, und durch ihre Ignoranz war er jetzt wütend.

„Mari", sagte er mit ganz leiser Stimme. Viel zu leise. „Wie lange bist du jetzt schon hier?"

Vergeblich versuchte sie, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „S... seit f... fast drei Monaten, Meister."

„Habe ich in dieser Zeit irgendetwas getan, was es rechtfertigen würde, mein Eigentum so derartig mit Füßen zu treten? War ich nicht gütig genug, dich in meinem Haushalt aufzunehmen, obwohl du hier nicht gebraucht wirst?", wollte er, immer lauter werdend, wissen.

Langsam stiegen ihr die Tränen in die Augen. Er hatte Recht. Er hatte sie nur aus reiner Güte bei sich aufgenommen.

Mari war mit sieben Jahren zur Waise geworden. Ihre Eltern waren beide auf der Heimkehr von einer Geschäftsreise verunglückt, ihre Kutsche war in der Nacht vom Weg abgekommen und einen steilen Abhang hinuntergeschlittert.

Von einem Tag auf den anderen verlor sie nicht nur ihre Eltern, sondern auch noch ihr Zuhause.

Denn alles, was der Kleinbetrieb der Familie Lindqvist hinterließ, war ein Schuldenhaufen, den nicht einmal die Zwangsversteigerung des Privathauses tilgen konnte.

Mari wurden Papiere vorgelegt, die sie unterschreiben sollte. Da Kinder nicht direkt für die Schulden der Eltern aufkommen konnten, wurde ihr einfach der Name der Firma vererbt, mitsamt den Schulden. Da Kinder aber nicht viel einbrachten einigte man sich darauf, sie bis zu ihrem 16. Geburtstag gedeihen zu lassen, um sie später zu einem viel höheren Preis und ganz anderen Zweck verkaufen zu können. Nicht, dass sie irgendetwas davon wusste. Sie unterschrieb einfach brav, was die Erwachsenen von ihr verlangten.

Anschließend war Mari in ein Waisenhaus gesteckt worden, wo sie hart für ihr Brot arbeiten musste. Die ersten Monate waren für sie am schlimmsten gewesen, vor allem der Umstieg von der liebevollen und kümmernden Familie zur kalten Heimleiterin, die wegen jeder Kleinigkeit herumschrie.

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