VIII

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Das ist es also ...

Das ist also diese berühmte Waage. Auch wenn der Schauer mich wieder freigibt, so fühle ich mich nicht gerade wohl.

Auf der einen Seite liegt diese Feder, auf der anderen Seite nichts. Nichts mehr. Ich schüttele mich bei dem Gedanken an den Schrei von eben. Noch – noch liegt dort nichts. Bis unseres reingelegt wird.

Jetzt wird es sich also gleich zeigen. Wohin ich gehöre. Was, wenn es nicht eindeutig erkennbar ist? Kann das passieren? Ist das schon einmal geschehen? Mist, warum habe ich all diese Fragen nicht gestellt?

Jetzt soll wirklich mein Herz gewogen werden? Ich verstehe das nicht. Bekomme ich das wenigstens mit? Ohne Herz kann ein Mensch doch eigentlich nicht weiter stehen.

Denk nach, denk nach! Was hat er noch mal alles gesagt? Wenn das Herz schwerer als die Feder ist, werde ich verschlungen, aber er sprach nichts von gleich ... Also ... ist das nichts Schlechtes, oder? Wie könnte es auch, wenn es sich bei der Feder um Gerechtigkeit handelt? Vielleicht ist es dann sogar das normale Ergebnis?

Etwas beruhigter gehe ich mit der Masse – die gar keine mehr ist, denn so viele Leute sind es nicht mehr vor mir – die Zentimeter nach vorne.

Auf die eine Hälfte von Osiris kann ich schon teilweise blicken, je nachdem, wie die Menschen vor mir gerade stehen. Er sitzt – mit anderen – unter einem Baldachin. An der Waage, die ich bereits viel besser im Blick habe, was ich aber gar nicht möchte, stehen Thot und Anubis. Wie können beide gleichzeitig an verschiedenen Orten sein? Weil sie Götter sind? Oder müssen wir deswegen so lange warten, damit sie mal eben kurz woanders hinkönnen, um ihrer anderen Aufgabe nachzukommen? Brauchen sie noch Personal? Außerdem ist Ammit – ein monsterähnliches Ding mit riesigem Maul – hinter der Waage ... Es sitzt direkt hinter der Waagschale, in der das Herz reingelegt wird. Allzeit bereit ... Gruselig.

Gedanklich versuche ich gerade zu rekapitulieren, ob ich Sünden in meinem Leben begannen habe beziehungsweise was als Sünde angesehen werden kann.

Nachdem ich unzählige mögliche Szenarien durchgespielt habe, die mich alle nicht schlauer gemacht haben, werfe ich gedanklich das Handtuch.

Ob es irgendein Risiko für mich gibt, mich weiter vorwärts zu bewegen. Keine Ahnung. Aber was, wenn ich die Reise nicht weitergehe? Würde das dann bedeuten, dass ich ebenso im Nichts lande? Dann kann ich es auch versuchen.

Chaka!, motiviere ich mich, wobei ich eine Hand zur Faust forme und auf mittlerer Höhe leicht angespannt bewege. Chaka! Nicht zu verwechseln mit Cha-Cha-Cha. Aber ich bin empört über bescheuerte Reime.

»Die nächste Seele möge vortreten.« Bisher habe ich die Stimme noch gar nicht gehört. Ich nehme meinen Blick von meiner Faust weg ... Ups, ich bin wohl dran. Mein Herz ist mir soeben in die Hose gerutscht, wobei ... es liegt in Anubis' Händen. Das ist freaky.

»Einen Schritt nach vorne«, werde ich angewiesen. Ich stehe wohl noch nicht ganz korrekt. Vielleicht weil ich zu viel Angst vor dem Schlundmonster habe. »Hast du in deinem Leben Freude erfahren?«, werde ich zu meinem Erstaunen gefragt.

»Ja, mein Herr.« Lasst diese Anrede passend sein, bete ich. Beten ... Wie unpassend in diesem Moment, obwohl vielleicht hören sie meine aufrichtige Absicht heraus.

»Und hat dein Leben anderen Menschen Freude bereitet?« Uh. Das ist aber eine schwierige Frage.

Ich blicke zu den Seiten, fühle mich schrecklich, weil mir nicht direkt etwas einfällt. Thot steht mitunter da, notiert anscheinend dort die Ergebnisse auf seiner Tafel. Oh Gott, das bringt mich nur noch mehr zum Schwitzen. Meine Augen wandern weiter zur Waage vor mir, wobei ich versuche, den Schlund des Monsters nicht zu betrachten. Noch sind beide Seiten ausgewogen. Noch habe ich auch keine Antwort gegeben.

Da kommt mir wieder eine Eingebung. Meine Eltern. Mein Bruder. Meine Freunde. Sie lächeln mir zu. Dann drehen sie sich alle in die gleiche Richtung und es erscheint ein junges Mädchen. Ihre warme, fröhliche Ausstrahlung dringt zu mir durch. Ich weiß, was sie mir mitteilen möchte. Die erste Träne findet ihren Weg. Lange habe ich sie begleitet. Die Träne tropft hinunter. Dank mir kann sie weiterleben, mit Freude im Herzen.

»Ja, mein Herr«, flüstere ich, wobei mir weitere Tränen die Wange hinab kullern.

»So sei es.« Gebannt schaue auch ich auf die Waage. »So leicht wie die Feder der Maat«, lautet das Urteil. Hinter Osiris öffnet sich ein Tor. Das dahinterliegende Reich strahlt mir entgegen.

Leicht und ohne Ballast schreite ich in das Iaru-Gefilde. Ich habe zu mir selbst gefunden. Mit dem letzten Schritt hier gehe ich zugleich den ersten dort. In den Beginn von etwas Neuem hinein. 

Schritt nach vorneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt